Engst - Schöne neue Welt

Review von Stormrider vom 12.11.2020 (10351 mal gelesen)
Engst - Schöne neue Welt ENGST haben sich mit ihrer EP aus dem Jahr 2017 und dem 2018 folgenden Debütalbum, "Flächenbrand", absolut zurecht eine beachtliche Fanbasis erspielt. Daneben konnten sie, durch ihre energiegeladenen Auftritte, auch auf den Bühnen der Republik mehr als überzeugen (zum Livereview der "Flächenbrand"-Tour geht's hier) und haben folglich jede Menge Clubs ausverkauft. Nun liegt das zweite Album in den Regalen und wer mit der Melange aus punkiger Attitüde mit vielen poppigen und den Ohren schmeichelnden Melodien etwas anfangen kann, der wird auch mit "Schöne Neue Welt" auf seine Kosten kommen. Denn schon mit dem Opener, 'Mein Problem', zeigen ENGST direkt, dass man sich auf die Stärken besonnen hat, die schon den "Flächenbrand" ausgemacht haben. Eingänge Songs, die immer greif- und nachvollziehbar sind und trotzdem kein Blatt vor den Mund nehmen. Dabei wirkt der Track fast schon ein wenig aus der Zeit gefallen, erinnert er mit seinen leicht angerappten Anteilen in der Strophe doch ein wenig an die 90er, geht aber mit seiner Aussage aber natürlich direkt nach vorne: Mein Problem? Das bist Du! Denn bitte lass mich doch einfach so sein wie ich sein will.

Man kann es durchaus als Statement werten, dass man diesen Song mit seiner Kernaussage als Start in die knapp 50 Minuten gewählt hat und nicht 'Wieder Da', was durch seinen Bläsereinsatz eine starke Punkseite bekommt und inhaltlich als Opener auch nicht verkehrt gewesen wäre. Denn es geht, was natürlich nicht vollkommen verwundert, darum, dass ENGST wieder da sind. Kennt man durchaus von vielen musikalisch ähnlich gelagerten Bands, die mit einem Loblied auf sich und die Fans ein Album eröffnen. In der Bridge klingen die Bläser fast schon wie als ob man auf einer Alm sitzt. Fehlt nur noch, dass ein paar Kuhglocken läuten. Inhaltlich vielleicht nicht der stärkste Song, den ENGST im Repertoire haben, aber geht trotzdem sofort ins Bein und dürfte live als Showopener wunderbar funktionieren. Nach der musikalischen Punknote kommt die inhaltliche. 'Keinen Meter' bezieht ganz klar politisch Stellung, aber leider lässt der Refrain die Power der Strophen etwas vermissen und nimmt sich selbst damit ein wenig die musikalische Wucht. Daran kann auch die Bridge mit den angedeuteten Growls nichts mehr retten, die dann im weichgespülten Refrain aufgeht.

Der Titel des folgenden Tracks, 'Willkommen In Berlin', sagt dann ja quasi schon worum es geht. Eine Hommage an die Heimatstadt. Nicht ein reines Loblied, aber man merkt dennoch, dass das die Heimatstadt ist, oder um es mit einer Zeile aus dem Song zu sagen: "Ich hasse es Dich zu lieben, mein Berlin". Musikalisch ein recht gewöhnlicher Rocktrack, der deshalb an mir eher vorbeigeht, weil ich mich mit Berlin dann doch zu wenig identifizieren kann. Und hier ist dann auch der Zeitpunkt für den, zumindest aus meiner Sicht, größten Kritikpunkt an "Schöne Neue Welt". Es gibt noch zwei weitere Songs die über die Hauptstadt oder das Leben dort berichten. Dabei ist 'Das Ist Nicht Hollywood' zwar nicht ganz so plakativ an Berlin gerichtet, aber am Ende geht es doch um das Leben auf den Straßen und wie gefährlich es doch ist und dass man das nur kennen kann, wenn man es erlebt hat. Musikalisch eher balladesk ausgerichtet, macht 'Zu Hause' dann das Trio voll. Wenn man Berliner ist, dann mag man sich damit vielleicht besser identifizieren können. Mir ist es in Summe zu viel Heimat. Und bevor das falsch verstanden wird, ENGST sind politisch klar positioniert und kommen niemals in die Verlegenheit, hier mit falschem Patriotismus aufzufallen. Mich berühren diese Songs nur einfach lyrisch nicht. Jemand vom Kiez wird das vermutlich komplett anders bewerten.

Zum Glück beweist Fronter Michael aber auch auf "Schöne Neue Welt" wieder, dass er es schafft, die Probleme dieser Welt und der vermeintlichen Mauerblümchen und Verlierer emotional und auf den Punkt gebracht in Worte zu fassen. So wird in 'Alle Tragen Schwarz' das Thema Mobbing und ein folgender Suizid offen thematisiert. Erst schauen alle weg, keiner hilft oder fühlt sich verantwortlich zu helfen, und wenn es dann passiert, dann sind alle immer sehr betroffen. Für mich ist das der vielleicht beste Track des Albums. Starke Message, cooler Drive. Solche Songs wünsche ich mir heutzutage viel häufiger, nicht das sonst übliche Geschwurbel des Märtyrers oder "wir gegen den Rest der Welt", was im Deutschrock so salonfähig ist. Ähnlich reflektiert wird auch in 'Schlechtes Gewissen' der Gesellschaft der Spiegel vorgehalten, nur fällt der Song musikalisch leider etwas ab. Das bleibt dem Titeltrack erspart, der die schöne neue Welt und den Egoismus unserer Zeit beschreibt.

Was man bei ENGST immer mal wieder ein wenig raushört, das ist, dass sie wohl aus der Szene damit konfrontiert werden, nicht genug Punk zu sein, oder eben nicht genug Mainstream, je nachdem von wo man kommt. Dabei funktioniert beides zusammen durchaus. Man kann eine starke Message vollkommen problemlos authentisch mit eingängigen Songs paaren. Und wo wir schon beim Thema Mainstream und Positionierung sind. 'Mitleid Gibt's Umsonst' ist der dazu passende Song, der sich gegen den vorherrschenden, austauschbaren Mainstreammusikgeschmack richtet. Auch das kennt man von vielen Deutschrock oder Punkbands, dabei muss man doch gar nicht immer wettern. Aber der Song geht mit seinem fast schon poppigen Refrain dennoch direkt ins Bein. Zum Ende hin schwächelt das Album dann leider ein wenig, auch wenn mit dem REINHARD MEY oder Folk angehauchten Abschlusstrack 'Soll Der Teufel' nochmal ein Überraschungsmoment kommt.

Zusammenfassend kann man sagen, dass ENGST mit diesem Album wieder sehr vieles, wenn auch (noch) nicht alles richtig gemacht haben. Etwas weniger Berlin, der eine oder andere richtig große Stadion-Refrain mehr und nicht immer damit kokettieren, dass irgendwer sagt, man sei nicht genug Punk. Ach, geschenkt! Man kann sich ja an die reichlich vorhandenen Perlen der "Schönen Neuen Welt" halten. Den Spagat zwischen poppiger Eingängigkeit, rockiger Kante, punkiger Attitüde und sozialkritischen lyrischem Anspruch, ohne zu platt oder zu besserwisserisch daherzukommen, den schaffen derzeit in dieser Qualität nicht allzu viele Bands. Wirklich sehr schade, dass der Coronadreck eine Tour dieser Tage verhindert. Ich kann jedem nur empfehlen, einen Gig der Jungs zu besuchen und sich von der Energie mittragen zu lassen, die da durch den Club fliegt.

Gesamtwertung: 8.0 Punkte
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Trackliste Album-Info
01. Mein Problem
02. Wieder Da
03. Keinen Meter
04. Willkommen In Berlin
05. Schlechtes Gewissen
06. Alle Tragen Schwarz
07. Das Ist Nicht Hollywood
08. Mitleid Gibt's Umsonst
09. Schöne Neue Welt
10. Zu Hause
11. Denkst Du Noch An Mich
12. Die Hölle Hat Keinen Platz Mehr
13. Soll Der Teufel
Band Website: de-de.facebook.com/Engstmusik/
Medium: CD
Spieldauer: 47:09 Minuten
VÖ: 30.10.2020

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