Dool - The Shape Of Fluidity

Review von Damage Case vom 18.04.2024 (617 mal gelesen)
Dool - The Shape Of Fluidity Kennt ihr das: Eine eurer absoluten Lieblingsbands veröffentlicht ein neues Album. Aber anstatt sich gierig darauf zu stürzen, haltet ihr ehrfürchtig Abstand. Traut euch fast gar nicht, es das erste Mal durch die Boxen in eure Ohren eindringen zu lassen, um euer Gehirn zu fluten. Wartet man auf den richtigen Moment oder ist es Angst vor einer Enttäuschung? Bei den Dickinsons, Sachsen und Priestern dieser Welt konnte man sich jüngst darauf einstellen, dass man wie gewohnt mindestens nicht negativ überraschende Kost auf gutklassigem Niveau erhält, die den liebgewonnenen Backkatolog ergänzt und ihm nicht zur Schande gereicht. Doch DOOL sind anders. Sie sind noch am Beginn ihrer Karriere, "The Shape Of Fluidity" ist erst ihr drittes Werk, das früher mal das Make-It-Or-Break-It-Album genannt wurde. Man kann dieser Kapelle also immer noch beim Wachsen, Explodieren, Stagnieren oder Implodieren live und in Farbe zusehen. Das kann den neugierigen Fan, den das Debütalbum "Here Now, There Then" kurz nach Erscheinen 2017 vollkommen unvorbereitet erfasst und überfahren hat, schon mal vor Ehrfurcht innehalten lassen. Die Promo von "Summerland" (2020) hörte ich vor Erscheinen auf einem zweitägigen Business Trip nach München, insgesamt achtmal am Stück auf dem Hin- und Rückweg. Danach hatte ich zunächst einen ersten guten Eindruck. 'Hermagoron', den ersten Vorabsong von "The Shape Of Fluidity", hatte ich bei Erscheinen exakt einmal angehört - ist alles okay, muss ich mir keine Sorgen machen? Ich war unterwältigt, nix vom Song blieb hängen. Ich war zwar nicht enttäuscht, aber eben auch nicht emotional geplättet, wie ich es bis dato von jedem von DOOL-Song war und bin.

Also traute ich mich nach gut zwei Tagen des Zuwartens, dass mir DOOLs dritte meine einzige Chance für einen ersten Eindruck gibt. Es gibt ohnehin keinen passenden Anlass, Ort oder Zeitpunkt, um einfach mal "seine" Musik hereinzubitten. Und was mir da entgegenstürmt ist so neu, so gewaltig und doch so bekannt, dass ich mich direkt zuhause fühle. 'Venus In Flames', der erste Song, IST Raven van Dorst. Oder zumindest ist es so für mich. Es ist vollkommen egal, ob die unverwechselbare Frontsirene Mann, Frau, Hermaphrodit oder ein ganz eigenes Geschlecht ist oder sein mag. Dieser MENSCH gehört zum Besten, Großartigsten und Schönsten, was uns das dritte Jahrtausend bisher geschenkt hat. Diese Präsenz. Diese Aura. Diese Stimme. Eine Minute des ersten Songs dauert es, bis das Intro in die DOOL-typischen Gitarren übergeht, dann explodiert "The Shape Of Fluidity" in dir. Diese Gitarren! Und dann gegen Songende noch dieser Spieluhreffekt, den man von 'In Her Darkest Hour' und 'Dust & Shadow' direkt wiedererkennt und in sein Herz schließen mag. Man darf sie (Ravens Seele) auf ihrer Suche begleiten und dabei beobachten, wie dabei DOOL entstanden und sich permanent weiterentwickeln. Doch was mag passieren, wenn Raven irgendwann einmal "ankommen" sollte und die Reise zu sich selbst beendet wäre? Doch bleiben wir in der Gegenwart: Selbst auf reiner Konserventonspur, so wie man ein Album eben hört, wischen Raven & Co. mit so ziemlich allen Formationen ihrer Generation den Boden auf - meiner Meinung nach zumindest! Wer's nicht glaubt, lauscht einfach direkt den zweiten Song 'Self-Dissect', der genau die von DOOL gewohnte Mischung aus Power und Verträumtheit (durch)lebt. Neu-Drummer Vincent Kreyder eröffnet den Song mit einer Salve, die in einen Melodiereigen übergeht, in dem man sich nackig reinwerfen und darin versinken will. Und immer wieder frage ich mich, der ich regelmäßig Urlaub in den beschaulichen, etwas positiv verrückten Niederlanden macht, wo das Quintett diese mitreißende Energie ihrer Musik und Texte herholt. Aus dem schlecht frittierten Futter etwa? Oder dem Blick auf Grachten, Dünen und Radwege, wohin man den Blick auch schweifen lässt? Nochmal: Raven wirkt auf das Publikum wie eine getriebene Seele, die auf der Suche nach sich selbst ist und DOOL dabei immer weiter antreibt. Doch wie einst bei den beiden Antreibern Oliver Kahn und Stefan Effenberg gilt "Weiter, immer weiter!". Nun glaube ich auch den Song 'Hermagorgon' zu verstehen, der mich spätestens nach dem dritten Hördurchgang mit seinen orkanartigen Gitarrensalven und flehenden Refrains hinwegfegte. Gorgonen sind der griechischen Sage nach Dämonen mit Schlangenhaaren, bei deren Anblick man zu Stein erstarrt. Die Medusa ist wahrscheinlich die bekannteste von ihnen. Ist der zweigeschlechtliche Dämon ein Bild dessen, wie sich Raven in dunklen Stunden sehen mag ("for I am my father's daughter, and my mother's son [...] but I'm strong as a god")? Eine nicht zugehörig empfindende Person, die sich dennoch ihrer besonderen Stärke ob ihres Andersseins bewusst ist? Beim achten Song 'Hymn For A Memory Lost' scheint dann meine Promo-Datei im Intro zu springen, doch die Auflösung folgt: es ist nur ein Effekt ('Don't Tell Me' von MADONNA, anyone?). Was immer wieder beim Hören der Songs auffällt: Heuer gibt es mehr Riffs, die in vielen Momenten von "The Shape Of Fluidity" einer Flut gleich einfach nur alles mit sich reißen wollen. Das mag einer der größten Unterschiede zu den beiden mehr von klassischen Melodien getragenen Vorgängeralben sein. Und dass Raven das Songwriting nicht mehr praktisch allein stemmt, sondern die Band als solche komponiert und alle Mitglieder sich einbringen, funktioniert merklich vorzüglich.

Das Artwork des Franzosen Valnoir ist auf den ersten Blick etwas sparsam ausgefallen und braucht ein wenig, bis es zündet, denn zunächst scheint einfach nur eine freudlose Fahne im kalten Grau zu flattern. Bei näherer Betrachtung des Lyric-Videos von 'Hermagorgon' fällt jedoch auf, dass sie aus Eis, also einer gefrorenen Flüssigkeit, besteht, und ihre Gestalt durch Schmelzen oder Brechen jederzeit verändern könnte - was eine krasse Umsetzung des Albumtitels! Und so packt es mich erneut: Das Pferd streichelte 2017 meine Seele, die Frau ohne Brustwarzen berührte 2019 meine Scham, die roten Wolken wühlten 2020 mein Herz auf und diese Eisfahne im rauen Wind lässt mich 2024 glatt frösteln ...

Fazit: Zum dritten Mal liefern DOOL ein Album komplett ohne Schwächen ab, das zwischen schnellem Rock ('Evil In You') und balladesken Weltklassemomenten ('Hymn For A Memory Lost') alles kann. Im Vergleich zum Vorgänger, der doch noch sehr nah am Debüt war, fühlt sich "The Shape Of Fluidity" anders an - auch wenn man es im Jahr des Erscheinens noch nicht wirklich beschreiben kann. "Summerland" wurde im Frühjahr 2020 just bei Veröffentlichung von einer gewissen Pandemie komplett ausgebremst. Heuer wird DOOL nichts mehr aufhalten, denn sie sind auf dem richtigen Weg. Nach oben. Verdammt, hoffentlich nach ganz oben!

Anspieltipps: Ohne Frage alles. Jeder Song, jede einzelne Note, jede Zeile. Vorne anfangen und bis zum Schluss durchhören, genießen, erleben und neunmal emotional anstecken lassen. Der Einstieg mit den beiden drückenden 'Venus In Flames', 'Self-Dissect' und dem dagegen beinahe entspannt wirkenden Titelsong wird niemanden enttäuschen!

Gesamtwertung: 10.0 Punkte
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Trackliste Album-Info
01. Venus In Flames
02. Self-Dissect
03. The Shape Of Fluidity
04. Currents
05. Evil In You
06. House Of A Thousand Dreams [Featuring Kim Larsen (OF THE WAND & THE MOON)]
07. Hermagorgon
08. Hymn For A Memory Lost
09. The Hand Of Creation
Band Website: allthosewhowanderaredool.com/
Medium: CD + digital
Spieldauer: 49:38 Minuten
VÖ: 19.04.2024

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