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Musik: Rettung oder Untergang für die Underdogs der Gesellschaft? |
Ein Artikel von Opa Steve vom 29.03.2014 (15113 mal gelesen) |
Selim Lemouchi starb im März 2014. Nicht, dass ich sein künstlerisches Werken in irgendeiner Form vermissen würde. THE DEVIL'S BLOOD waren für mich persönlich einer der belanglosesten und aufdringlichsten Hypes der 2010er Jahre. Ich bin auch der festen Überzeugung, dass es nicht allein die Musik war, die zu dem Rummel um die Band führte. Das extrovertierte Auftreten als künstlerische Erscheinung auf der einen Seite, aber auch Selims wirre Statements und zuletzt auch sein unberechenbares Verhalten brachten ihnen viel Presse ein, und viel Presse und ein paar Alleinstellungsmerkmale führen automatisch zur breiten Anerkennung. Als Mensch aber schien Selim in der ganzen Situation in eine Abwärtsspirale gekommen zu sein, aus der es kein Entrinnen gab. Auch wenn die genauen Todesumstände nicht bekannt sind, deutet wohl einiges auf Selbstmord hin. Damit würde Selims Fall fatal an den Kurt Cobains erinnern. Beides Personen, die sicherlich schon vor der musikalischen Karriere im gesellschaftlichen Leben keinen richtigen Fuß fassen konnten, und sich - wodurch auch immer - eher an den Rand derselben stellten. Ein fataler Teufelskreis, denn wie so oft geschieht dies nicht ganz freiwillig und selten macht dort jemand den Eindruck, wirklich glücklich zu sein. Die vermeintlich bewusste Entscheidung und das Hochlied auf die vielbeschworene Freiheit abseits bürgerlicher Grenzen wird somit zur entlarvenden Ausrede eines in Wirklichkeit kaputten Lebens hinter prominenter Kulisse. Und die Paradoxie dahinter wird so oft schlagartig klar, wenn sich diese Menschen plötzlich im Rampenlicht des eigentlich verhassten öffentlichen Lebens wiederfinden. Hinter extremen Statements und wirrem Zeug verbirgt sich oft nichts anderes als die pure Unsicherheit. Und das Ende ist oft fatal und vorprogrammiert, wie seinerzeit bei Jon Nödveidt, dessen Selbstmord ähnlich krude Weltanschauungen vorausgingen. Cobain hingegen machte sich damals erst gar nicht die Mühe, vorzugeben, dass er souverän mit der Situation umgehen könnte. Offene Angepisstheit und Drogen sind eine der Möglichkeiten, und es endete mit der Flinte am Kopf, als dies auch keine Erlösung versprach. Selim war seine Unsicherheit in den letzten Monaten nicht minder anzumerken. Sein Interview mit seinem größten Supporter Götz Kühnemund auf einer der letzten Rock-Guerilla-DVDs war ein Anschauungsbeispiel offensichtlich wirrer Gedanken, gefangen in einer selbst geschaffenen Kunstwelt, vielleicht sogar einem bewusst kreierten Images. Seine Anschauungen hatten den Boden der tolerantesten Logik längst verlassen, und selbst Fanboy Götz merkte man die Unbehaglichkeit an und auch die Machtlosigkeit, aus diesem Gespräch noch irgendetwas Greifbares herauszukitzeln. Dass in Selims Universum Konzerte zur heiligen Messe mutierten und er sich bei Ablehnung nicht mehr anders zu helfen wusste, als rumzuprügeln, waren dann nur noch das Sahnehäubchen auf dem Zerfall eines Charakters.
Interessant ist dabei oft, dass vor allem eine auf ihre Art extreme Musik oft ein kreatives Ventil für Menschen mit gesellschaftlichen Defiziten ist. Sei es dafür, auszudrücken, was man in anderer Form nicht rauslassen kann, oder sei es der Wunsch nach Anerkennung. Wobei letztere dann oft zu mehr Problemen führt, denn Anerkennung zerrt einen in den Mittelpunkt. Und das oft gnadenlos und ohne Vorwarnung. Schnell stellt man fest, dass dies Schattenseiten hat. Denn es führt zwangsläufig dazu, dass man sich anderen gegenüber laufend erklären muss. Nicht einfach für Menschen, die manchmal im Leben nur Scheiße erlebt haben. Nicht wenige Musiker im Metal-Bereich erzählen hierzu ähnliche Geschichten. Soziale Unterschicht, Bildungsferne und Eigenbrötlerei - gepaart mit einem starken musischen Talent oder kreativem Drang - sind nicht selten der Nährboden für die Karriere im Zweitleben auf der Bühne. Und immer wieder hört man auch, dass einen die Musik gerettet hätte, und dass man ohne Musik vermutlich heute unter der Brücke sitzen und sich die Nadel geben würde. Würde dies immer so funktionieren, wäre Musik ja eine tolle Sache. Ein tolles Ventil zur Selbstverwirklichung und eine Alternative, sein Talent unter Beweis zu stellen, was einem im Büro oder in der Werkstatt nicht gelingen mag. Aber wie man oben sieht, besteht genauso das Risiko, dass einen die Musik oder das Musiker-Sein noch weiter runterzieht. Vor allem, wenn man das Konzept auf einem destruktivem Umfeld aufbaut oder diverse Substanzen in einer ungesunden Menge die Karriere begleiten. Das muss nicht unbedingt damit enden, dass man sich als junger Mensch die Kugel gibt. Aber auch für die Überlebenden ist die vermeintliche Rettung oftmals auch nur ein selbstzerstörerischer Weg - statt Ausweg. Man denke nur an Jeff Hanneman, dessen Alkoholsucht nie wirklich thematisiert wurde, und den nicht das böse Image SLAYERs das Leben gekostet hat, sondern schlussendlich der Suff. Zu zweifelhafter Popularität brachte es damals auch James Hetfield, der als Bühnenidol mit METALLICA eine Kometenkarriere hinlegte. Doch nach 20 Jahren wurde durch die schonungslose Doku "Some Kind Of Monster" und einige offene Worte in Interviews klar, dass James das traurige Leben seit seiner Jugend, als er versuchte, dem tristen und religionsfanatisch geprägten Umfeld seines Elternhauses durch sein Engagement in Bands zu entfliehen, nie wirklich verlassen hatte. Man beneidet ihn wegen seines Status in der Musikwelt, aber möchte bei genauem Hinsehen keinesfalls mit ihm als Person tauschen. Auch sein ganz früher Sidekick, Dave Mustaine, hatte einen vergleichbaren Lebenslauf. Neben dem Alkohol hing Dave zusätzlich an der Nadel, aber erfolgsmäßig immer zwei Schritte hinter METALLICA zurück, was sein ohnehin äußerst labiles Ego noch mehr unter Stress setzte. Auch Dave hatte seinen Punkt, an dem nichts mehr ging, nämlich als er sich Mitte der 90er während des Drumsolos hinter seinem Marshall-Stack den nächsten Schuss setzte.
Interessanterweise war Dave mit dem Heroin gleichzeitig auf einem kreativen Höhenflug, der sich in dieser Zeit deutlich von METALLICAs Niveau abhob. Die Droge, die ihn zerstörte, war Teil seines Erfolgs, und als er den Entzug erfolgreich beendet hatte, fiel diese Kreativität deutlich in sich zusammen. Ein cleaner Dave Mustaine, der im Gegensatz zu James Hetfield dann auch noch sein Seelenheil in der Religion fand, wirkt in diesen Jahren abgeklärt und deutlich zufriedener als vor 20 Jahren. Man gönnt es ihm, aber man muss sich gleichzeitig eingestehen, dass man doch gern mal wieder Meisterwerke wie 'My Last Words' oder 'Hangar 18' aus seiner Feder vernehmen würde. Aus Sicht des Fans kann man daher klar sagen, dass einem das persönliche Wohlbefinden des Künstlers eigentlich ziemlich egal ist, solange er was richtig Geiles auf Silberling bannt. Das gilt im Übrigen genauso für Ikone Lemmy, der nach außen hin vermutlich einer der integersten, geradlinigsten und interessantesten Menschen ist und somit so etwas wie der unfehlbare Papst der gesamten harten Musikszene. Dass er sich in einem Leben auf Speed und Alkohol trotz beeindruckender Konstitution kaputtmacht, haben wir eigentlich immer gewusst, und die Folgen zeichnen sich ja aktuell zunehmend ab. Aber hey, wir reden von Lemmy. Er wäre schließlich nicht Lemmy, wenn er leben würde, wie du und ich. Ob er in seinem spartanischen Apartment und vor dem Spielautomaten im Rainbow wirklich zufrieden ist, weiß allerdings niemand, und eigentlich spielt es auch keine Rolle, solange man sich für'n Bier und ein Foto mal dort neben ihn stellen darf. Insofern sind wir Musik-Konsumenten keinen Deut besser als Käufer irgendwelcher in Indien zusammengegifteten C&A-Schuhe - aber wenigstens hat man bei Lemmy zur eigenen Entschuldigung stets den Eindruck, dass er wirklich genau weiß, was er tut, und die Freiwilligkeit seines Lebensstils ist bei einem so starken Charakter deutlich glaubwürdiger. Das ist aber in den seltensten Fällen so, und die entstellte Fratze eines Kevin Russells auf dem Tiefpunkt seines Lebens verschaffte einen ungefähren Einblick, wie tief unten man trotz Popularität und einer gigantischen Fanbase ankommen kann.
Es muss ja nicht immer gleich so schlimm kommen, und manche kriegen die Kurve ja auch. Sie spielten mit dem Feuer und endeten als ernstzunehmende Künstler. Wie diese grünschnabeligen Pimpfe aus dieser langweiligen norwegischen Bucht, genannt Bergen. EMPEROR schufen in ihrer Jugend die beeindruckendsten Werke des nordischen Black Metals und glänzten abseits der Musik mit Kirchenbränden sowie Beteiligung am Mord. Man sollte nicht glauben, dass Samoth und Faust in EMPEROR spielten, weil sie allein von der intellektuellen Herangehensweise und der tonalen Progressivität fasziniert waren. Auch Ihsahn hat die Faszination für die dunkle Seite später nie geleugnet, sie aber als Vergangenheit abgehakt. So viel Angepisstheit und Adrenalin legt man nicht auf Knopfdruck an den Tag, und die Wahl für die Musik sowie das Umfeld ergaben eine natürliche Symbiose, bei der die Musik nicht Ursache, sondern lediglich Wirkung war. Jahre später ist Ihsahn eher ein musikalischer Nerd, der ganz andere Extreme auslotet, und die Skandale sind abgehakt. Auch die Szene interessiert ihn schon lange nicht mehr. Ähnlich verlief es mit Devin Townsend, der als junger Kerl unter krankhafter Schlaflosigkeit litt und sich alle Drogen reinzog, die man chemisch irgendwie aufschreiben kann. Das Ergebnis dieses pathologischen Adrenalinüberschusses war der grandiose Lärm der frühen STRAPPING YOUNG LAD, deren Meisterwerk "City" als beispiellose vertonte Durchgeknalltheit durchgeht. Geschaffen von einem Menschen, der ebenfalls auf dem besten Weg war, sich selbst zu zerstören. Und auch hier war die Musik dieser Phase ein beeindruckendes Denkmal. Devin fand dann zunehmend die Stabilität im privaten Umfeld, wurde Vater, und STRAPPING YOUNG LAD mutierten zum kontrollierten Groove-Thrash, der nicht mehr im roten Bereich agierte. Devins abschließende - und so kurz wie ehrliche - Begründung zum Ende der Band: "Ich spüre den Zorn nicht mehr.". Geblieben ist dennoch sein unbeschreibliches musikalisches Talent, aber weitab der früheren Extreme. So sehr ich die alten STRAPPING YOUNG LAD geliebt habe, das neue Leben muss man ihm gönnen können.
Extreme Kunstformen entstehen nicht aus dem Nichts. Alles hat eine Ursache, und manchmal steckt hinter einzigartiger Kunst auch eine individuelle persönliche Tragödie. Daran trifft die Hörer und Fans in den seltensten Fällen eine Schuld. Aber ab und zu lohnt sich ein Blick hinter die Kulissen und wir sollten nicht vergessen, dass Musik und Mensch nicht trennbar sind.
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