Manche mögen's laut

Ein Artikel von Opa Steve vom 23.10.2010 (8588 mal gelesen)
Manche mögen's laut. Natürlich allen voran die Heavy Metal Gemeinde. Was bleibt schon von einer Riffattacke, die in Zimmerlautstärke als Hintergrundmusik säuselt? Oder was wäre ein Konzert ohne Druckluft aus der PA? Wer einmal die orgiastische Erfahrung gemacht hat, wenn gut abgemischte Musik exakt bis vor die Schmerzensgrenze gefahren wird, und eine Anlage mit ausreichend Reserven diese luftig und lässig auf Ohren und Magengrube ballert, will sich nicht mit weniger zufriedengeben.

Man beachte, dass in diesem Absatz 3 Grundvoraussetzungen stehen:

- gut abgemischt
- bis vor die Schmerzensgrenze
- Anlage mit Reserven.

Fehlt nur ein Kriterium, wird aus Lust schnell Frust. Ich kann mich noch gut an eine TANKARD-Tournee 1989 erinnern, als das Trierer Publikum einige Hörstürze zu beklagen hatte. Der Sound war allerdings glasklar, so dass einige natürliche Schutzmechanismen versagten. Aber so laut muss es messtechnisch eigentlich nicht einmal werden, wenn der Sound mal nicht stimmt. Die Soundcheck-Kultur ist die letzten Jahre ohnehin den Bach runtergegangen. Viele Bands werden erst eingepegelt, wenn sie schon vor Publikum stehen. Und selbst bei Headlinern kleinerer Touren kann man sich nicht sicher sein, dass diese in entsprechendem akustischen Gewand daherkommen. Wenn dann noch eine schwachbrüstige Clubanlage vorliegt, ist die Katastrophe vorprogrammiert: der Sound ist im Clipping-Bereich, die Snare ist viel zu laut, und von der getriggerten Bassdrum, die heute ohnehin schon die meisten Instrumente live komplett zerballert, will ich gar nicht erst reden. Das Ergebnis: aua, Pumpen, Zerren, Matsch.

Ich habe keine Ahnung, ob es an unfähigen Mixern liegt, die im Laufe der Karrierejahre eben sämtliche Sensibilität eingebüßt haben, oder am aktuellen Zeitgeist namens "Loudness War". Man kennt nämlich in der Regel nur eine Richtung: lauter! Wer kennt das nicht, dass ein Headliner relativ moderat loslegt (weil man sich nämlich mittags mit ausgeruhten Ohren den Soundcheck gab), aber bis zur letzten Zugabe deutlich die Schmerzensgrenze überschreitet? Die Sound-Politik ist dabei eindeutig: wenn das Gesamtgefüge nicht stimmt, macht man niemals leiser, was zu laut ist, sondern immer nur lauter, was zu leise ist. Im Endeffekt schaukelt sich dann alles herrlich hoch, und da ein Mixer trotz Soundcheck aus Langeweile bis zum letzten Song die Pfötchen nicht von den Knöpfchen lassen kann, enden viele Konzerte nochmal paar Dezibel lauter als sie angefangen haben. Es gibt professionelle Ausnahmen, aber mal die Hand auf's Herz: wieviele der dutzenden monatlichen Metal-Konzerte werden schon professionell durchgezogen?

Dabei hat man heute vielfache Möglichkeiten unterstützender Technik, die aber oft falsch eingesetzt werden. Vor 30 Jahren waren noch Limiter dazu da, Boxen vor Clipping-Impulen zu schützen. Gut klingende Kompressoren waren Highend-Ware, und eine PA musste idealerweise mit flockigen 15dB Headroom betrieben werden, um die lauten Impulse z.B. einer Snare noch verzerrungsfrei unterzubekommen. Die Energiedichte war dadurch überschaubar, aber der Sound transparent. Die Digitaltechnik entwickelte sich aber früh im PA-Bereich von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde. Sicherlich gut gemeint, aber für manche Hände einfach nicht gut gemacht. Das Ergebnis waren meist mangelhaft erfahrene Tontechniker, denen auf einmal pro Gruppensumme (später sogar pro Kanalzug) das ganze Wunderwerk der digitalen Signalaufbereitung zur Verfügung stand. Der Loudness-War, der von Radio-affinen Labels auf Tonträgern dazu eingesetzt wurde, im subjektiven Empfinden möglichst laut wahrgenommen zu werden, hat längst auch unsinnigerweise auf Konzerten Einzug gehalten. Spuren, Gruppen, Summen und Sidechains werden durch unzählige Kompressoren, Limiter, Exciter gejagt - einfach weil der Kram relativ billig und kompakt ist. Das Ergebnis ist eine unnatürlich dichte Wand aus Sound, die um jede Dynamik beraubt wurde, bloß um jeden einzelnen Beckenschlag oder ausklingenden Ton des Gitarrensolos noch bis zum Anschlag der Gesamtlautstärke ausreizen zu können. Für die Ohren ist dies eine Tortur. Physisch wie psychisch. Zum einen ist totkomprimierter Sound auf Dauer ermüdend, weil die Lebendigkeit fehlt. Zum anderen gesellt sich zur Gesamtlautstärke eine Energiedichte, die nochmal um ca. 7-10db (RMS) höher liegt als der gleiche Anlagenpegel mit originalbelassenem Sound. Nur zur Verdeutlichung: 6dB sind bereits eine Vervierfachung des Schalldrucks (auch wenn es nicht viermal so laut wahrgenommen wird), den das Trommelfell hier als Belastungsprobe wegstecken muss. Dieses Wettrüsten um den fettesten Klang führt mittlerweile dazu, dass gerade jüngere Fans verdutzt gucken würden, wenn sie die gleiche Band ganz normal im Proberaum hören würde.

Was für Folgen hat der Loudness-Wahn für die Ohren? Im Fostex Cookbook wurde in den 80ern eine Studie des britischen Gesundheitsministeriums zitiert, nach welcher nicht Lautstärke allein verantwortlich für Hörschäden sei, sondern das Produkt aus Lautstärke x Dauer. Sprich: wer gelegentlich mal verdammt laut hört, ist unter Umständen weniger gefährdet wie jemand, der gewohnheitsmäßig und oft "einfach" ziemlich laut hört. Das sind gute Nachrichten für die Metaller, denn sie stehen normalerweise weniger tagaus tagein mit MP3-Player in den Ohren desozialisiert in der Landschaft rum. Einen spontanen Schaden gibt's nur beim Knalltrauma, d.h. bei der physischen Übersteuerung des Hörorgans, bei dem die feinen haarförmigen Nervenenden tatsächlich mechanisch plattgedrückt werden und somit auf dieser Frequenz wahlweise ein Ausfall, oder schlimmer ein Dauerpfeifen entsteht. Für solche Schäden benötigt man aber extremen Schalldruck, den selbst unvernünftige Menschen nicht freiwillig einstellen würden. Auch wenn es leider immer noch schlecht designte Clubs gibt, wo man zwangsläufig zu nahe an den Boxen steht, anstatt diese, wie es sich gehört, hoch aufzuhängen oder entsprechenden Gitterabstand im Fotograben vorzusehen. Aber früher waren kurze Impulse (z.B. von der Snare) mehrheitlich für Hörstürze verantwortlich. Diese - und das ist der Segen moderner Anlagentechnik - gehören allerdings schon länger der Vergangenheit an. Im Gegenzug ist allerdings der Gesamtschalldruck stark angestiegen, was einem wiederum nicht mehr so viel Lebenszeit einräumt, sich solchen Lautstärken ungeschützt auszusetzen.

Wie man es dreht: so richtig wird man nicht glücklich. Wünschenswert wäre natürlich, dass eine Tour sowohl fähige Technik mit sich bringt, aber auch einen Mann am Mischpult, der damit umzugehen weiß. Und im engen Touralltag auch genügend Zeit eingeräumt bekommt, fiese Spitzen zu glätten und Instrumente und Frequenzen sauber im Spektrum zu platzieren. Denn das allein macht den Sound transparent und dicht, ohne ihn abzutöten. Diesem Wunsch wird auf vielen teuren Touren großer Pakete auch entsprochen, aber seien wir ehrlich: Touren mit entsprechendem Budget findet man im Metal-Alltag selten. Meistens gibt es 2-3 Vans, eine abgefuckte Halle in einem Industriekomplex mit fest installierter 08/15-PA, und der wirkliche Soundcheck dauert gerade mal so lange wie die Band braucht, das erste Willkommensbier runterzustürzen. Denn dann ist schon Einlass. Zeit ist Geld, Hit & run das Motto.


So konnte entstehen, was heute fast Alltag ist, vor einem Vierteljahrhundert allerdings noch Seltenheit: Man geht ins Konzert, und 60% des Publikums steht mit jeder denkbaren Variante des Gehörschutzes dort rum, weil es ohne Gehörschutz unangenehm oder gar nicht zu ertragen ist. Hat da eigentlich (Achtung: Doppel-Kalauer) noch niemand den Schuss gehört? Hat sich noch niemand die Frage gestellt, warum man Konzerte dann überhaupt so laut macht, wenn sich der Großteil des Publikums diese wieder individuell absenkt - und das unter Inkaufnahme deutlicher Klangeinbußen?


Taschentücher und Schaumstoff-Oropax sind dabei lediglich bequemer, als sich ständig die Ohren zuzuhalten, aber klanglich ungefähr ähnlich attraktiv. Hier und da findet man schon die "Tannenbäume" gehobener Klasse, die mit einem internen Resonator für einen nicht all zu dumpfen Klang sorgen, da sie das Spektrum für Sprachverständlichkeit (ca. 3-4 kHz, in welchem auch die meisten klangrelevanten Obertöne der Musik liegen) noch halbwegs linear halten und erst darüber hinaus dumpf werden. Diese Tannenbäume zeichnen sich durch ein hervorragendes Preis-Leistungsverhältnis aus und sind quasi unverwüstlich. Sie sollten allerdings regelmäßig zerlegt und der Resonator gereinigt werden - ein Ultraschallreiniger und sanfte Seifenlauge ist perfekt (Ausspülen und Trockenzeit beachten). Vorsicht ist bei billigen Noname-Angeboten um die 10 Euro geboten, denn diese sehen zwar genauso aus, besitzen aber den wichtigen Resonator nicht, weswegen deren Klangqualität ungefähr den 50-Cent-Stöpseln von Oropax entspricht - also gar keine. Der Autor dieser Zeilen hat sich aber jüngst für die Profi-Lösung entschieden: ein angepasster und linearer Gehörschutz vom Hörgeräteakustiker. Nach den bekannten Naturgesetzen der "80-Prozent-Regel" ist es natürlich so, dass 80% der investierten Knete für die fehlenden 20% Qualität aufgebracht werden müssen. In der Tat ist ein Paar angepasster Ohrenstöpsel mit 160 Euro nicht gerade billig. Aber die Resonatoren sind komplett wartungsfrei (dürfen(!) noch nicht einmal gereinigt werden), und der Stöpsel besteht aus ähnlich robustem Silikonmaterial wie das der "Tannenbäume", was eine Lebenszeit von 10 Jahren durchaus möglich macht. Und durch die individuelle Anpassung sitzen sie sehr bequem (und halten dennoch beim Bangen).


Gerade für Leute, die oft auf Konzerte gehen und somit allein im Jahr schon 500 Euro und mehr ausgeben, sollte diese Investition eigentlich genauso sinnvoll sein wie das obligatorische Konzertbier. Natürlich hilft ein guter Gehörschutz nicht gegen schlechten Sound, aber er hilft immerhin gegen lauten Sound. Und da man als Publikum wenig Einfluss auf die Qualität und die Lautstärke der Konzerte hat, kann man es sich wenigstens so bequem wie möglich einrichten. Für mich persönlich sind diese Stöpsel, deren Preis bisher immer die alleinige Hemmschwelle war, die Offenbarung, die ich viel zu lange hinausgezögert habe. Die Absenkung kann man wählen, und ich habe mich für 15dB entschieden. Diese sind genau richtig, um sehr laute Konzerte auf ein angenehmes "laut" runterzuschrauben, und es ist eine Wonne, trotz Gehörschutz den Sound klarer wahrzunehmen als ohne, denn das Ohr wird nicht mehr in die Verzerrung getrieben. So kann man auch mal wieder ganz vorne im Schallkegel stehen, der Körper wird ordentlich gefönt, und in den Ohren herrscht wieder Genuss statt Frust. Ganz davon abgesehen, dass sich ohne Schutzmaßnahmen nach ausreichend langem Konzertleben irgendwann von selbst schleichend ein Hörempfinden einstellt, welches Oropax gleich kommt. Und mal ehrlich: wenn Mixer einen Hörschaden haben ist es schon schlimm - wenn man selbst einen hat, ist's schlimmer.

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