Alcest - Spiritual Instinct

Review von Zephir vom 25.10.2019 (9265 mal gelesen)
Alcest - Spiritual Instinct Als ALCEST vor einiger Zeit ihren Wechsel von Prophecy zu Nuclear Blast bekannt gaben, mag das dem einen oder anderen Fan einen kleinen Schrecken eingejagt haben: Was bedeutet das nun für die unkonventionelle Musik der Franzosen, die nach einem Black-Metal-Start vor fast zwei Jahrzehnten die konservativen Schwarzmetaller mit Outputs wie "Le Secret" (2005) und "Écailles De Lune" (2010) vor den Kopf stießen, im Nu eine neue Fangemeinde erschlossen und gleichsam nebenher das neue Genre des Post Black Metal mit begründeten? Gibt es nach dem umstrittenen Ausflug in die Post Rock/Dream Pop-Welt des vorletzten Albums "Shelter" (2014) abermals einen Bruch im Schaffen des Duos Neige und Winterhalter - weil NuBla einfach größer, kommerzieller und für ein sehr viel breiteres Publikum aufgestellt ist? Als Fan der ersten Stunde, der sich mit "Shelter" nie so recht anfreunden konnte, aber "Kodama" (2016) umso mehr liebt, habe auch ich dem Umzug von ALCEST etwas besorgt entgegengeblickt. Die zwischenzeitlich immer wieder gestreuten Infos, beim sechsten Longplayer "Spiritual Instinct" werde es sich um ein düsteres und ungefiltert emotionales Album handeln, deckten sich dann mit der Wirkung der zur Anfütterung vorab ausgestreuten neuen Tracks 'Protection' und 'Sapphire' - mit deren musikalischem Gehalt wie auch mit den untermalenden Videos.

"Spiritual Instinct", das neue Album mit der symbolistischen Sphinx auf dem Cover (verantwortlich: das Künstlerduo Førtifem), liefert jene unverwechselbare Mischung aus Härte und Sphäre, mit der sich ALCEST seinerzeit in die Seelen ihrer Hörerschaft gespielt haben. Die Platte ist ein unvermittelt-direkter musikalischer Ausbruch brodelnder Innerlichkeit des Masterminds Neige, der sich in wildem Gitarrenschnarren, rasendem Drum-Gewitter und immer wieder völlig überraschenden Rhythmusbrüchen und Tempowechseln entäußert. Bereits in den ersten Takten baut der Opener 'Les Jardins De Minuit' eine hypnotische Spannung auf, in der die typischen verträumten Cleangesänge ebensowenig fehlen wie das charismatische Screaming - und hier werden sogar, wie ich meine, erstmals seit Anbeginn des Bandschaffens beide Gesangsstile übereinandergelegt.

Ohne große Überleitung trifft uns die Wucht von 'Protection', einem unmittelbaren, wahrhaftigen Song, der gleichsam beklemmende wie auch faszinierend befreiende Katharsis transportiert. Musikalische Nachwirkungen aus "Kodama" sind in manch eingestreuten Skalen nicht zu verkennen, insofern ist der Titel folgerichtiger Anschluss an das bisherige Schaffen von ALCEST, und doch ist er mit seiner völlig unberechenbaren Urgewalt etwas ganz frappierend Neues. Ähnlich geht es mir mit 'Sapphire', in dem gleichermaßen Anleihen aus 'Eclosion' (ebenfalls vom Album "Kodama") wie auch von der leider nicht mehr aktiven Combo AMESŒURS leuchten - Zerbrechlichkeit gepaart mit einem unzerbrechlichen, starken Streben zum Neuen, ein musikalischer Kampf um etwas bis dato Unentdecktes.

Zwischen all dem Vertrauten und Unerwarteten dann ganz und gar verblüffend der Einstieg in 'L'Île Des Morts'. Dieser Track, dessen Titel allein von symbolistischem Gehalt nur so trieft, vernebelt einem erst die Sinne mit synthetischem Beben und starken Verzerrungen in der Saitenfraktion, knüppelt alsdann den Hörer mit brachialem Riffing, exzentrischer Rhythmik und erstaunlichen Harmoniefällen nieder. Verklärter Cleangesang, mehrschichtig gelayert, wechselt mit schmerzerfüllten Screams, während auch hier zwischenzeitlich Skalen und Instrumentierungen von "Kodama" durchscheinen. Ein Brett von einem Post-Black-Metal-Song, den man nahezu progressiv nennen möchte und der einen nach Verklingen der letzten Töne atemlos mit Herzrasen zurücklässt.

'Le Miroir', gleichzeitig schweren Schrittes stampfend wie auch filigran und anmutig, bringt es in seiner Midtempo-Mischung aus Erhabenheit und Schönheit zur Perfektion. Solch eine tiefgründige Stimmung gab es bei ALCEST schon früher, behelfsmäßig wäre ein Vergleich etwa mit 'Sur L'Océan Couleur De Fer' (vom Album "Écailles De Lune"). Allerdings ist der aktuelle Titel ebenso wie der von 2010 herangezogene Song eingebettet in einen konzeptuell anmutenden Kontext, aus dem er sich nicht einfach lösen lässt.

Der ans Ende platzierte Titeltrack 'Spiritual Instinct' schließlich entlädt sich in epischer Breite, in mehrstimmigen Cleangesängen, verschwimmenden Post-Metal-Gitarrenriffs und teils vertrackter Feinarbeit am Schlagwerk. Der düster-symbolistische Charakter des Albums löst sich hier in lichtdurchflutete Sphären auf, kulminiert in warmen Wellen aus Dur: Anschließend muss ich die Platte direkt noch einmal hören.

Und noch einmal. Es ist erstaunlich: Dieses Album haben die Herren Neige und Winterhalter laut eigenen Angaben quasi in einem Befreiungsakt direkt aus der Seele komponiert, der Aufnahmeprozess jedoch - wie bereits "Kodama" mit Benoît Roux in den Drudenhaus Studios - soll recht langwierig gewesen sein. Herausgekommen ist ein Werk, das mich mit einer bestechend eigensinnigen, teils morbiden, teils paradiesischen, in jeder Sekunde wahrhaft überwältigenden Atmosphäre vereinnahmt und, obwohl es unüberhörbar an das frühere Schaffen von ALCEST anknüpft, ganz und gar in sich geschlossen ist. Als alter Fan bin ich von "Spiritual Instinct" aus tiefster Seele angetan und vergebe die volle Punktzahl.

Zusätzlich sollte man sich die Videos zu 'Protection' und 'Sapphire' dringend zu Gemüte führen:





Gesamtwertung: 10.0 Punkte
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Trackliste Album-Info
01. Les Jardins De Minuit
02. Protection
03. Sapphire
04. L’Île Des Morts
05. Le Miroir
06. Spiritual Instinct
Band Website: www.alcest-music.com
Medium: CD
Spieldauer: 41:02 Minuten
VÖ: 25.10.2019

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