20 Jahre "Brave New World": Ein moderner Klassiker aus dem Hause IRON MAIDEN
Ein Artikel von Blaze Breeg vom 25.05.2020 (38407 mal gelesen)
Die Vorgeschichte
Die Vorgeschichte ist wohl allen bekannt: Die Ära Blaze Bayley, das große, tragische Missverständnis, endete im Jahr 1999, Bruce Dickinson sowie (ebenso wichtig) auch Adrian Smith kehrten zurück - und IRON MAIDEN eroberten endgültig die Welt. Übertrieben? Nein, schaut euch nur mal die Aufnahmen zu "Rock In Rio" an, so groß waren die "Eisernen Jungfrauen" selbst in den Achtzigern nicht, in Südamerika auf keinen Fall. Dass Blaze Bayley, nun auf Solo-Pfaden, eine Woche vor "Brave New World" mit "Silicon Messiah" eine exzellente Scheibe veröffentlichte, ging leider nahezu komplett unter. Aber der Mann, der für den ersten Teil meines Nicknames verantwortlich ist, soll in der Zukunft noch einmal ausführlich im Rahmen eines angemessenen Specials gewürdigt werden. Hier geht es nun um DAS Metal-Comeback nach der Jahrtausendwende.
Die Jungfrauen und ihre Opener
IRON MAIDEN waren fast immer in der Lage, grandiose Opener für ihre Longplayer zu schreiben, man denke nur an 'Aces High', 'Caught Somewhere In Time' oder 'Moonchild'. In den Neunzigern schwächelte man ein wenig, aber auf der Habenseite standen damals immerhin trotzdem 'Be Quick Or Be Dead' und das göttliche 'Sign Of The Cross', das nur eben als Opener eher unglücklich platziert war. Im Jahr 2000 passte aber wieder alles: 'The Wicker Man' fand sich nicht umsonst auf der Setlist der Corona-bedingt leider unterbrochenen Legacy Of The Beast World Tour wieder - ein moderner Bandklassiker, der die Meute mit seinen bandtypischen Ohohoh-Chören stets anheizt. Wie oft habe ich hier schon meine Stimme verloren? Wenn ich mir alle Opener anschaue, die Steve Harris und Co. seit 1980 geschrieben haben, steht der Song bei mir locker in den Top Five. Zu regelmäßigen Gästen im Live-Programm entwickelten sich zudem der Titeltrack 'Brave New World' (mit seinem mitunter etwas arg repetitiven Chorus) sowie das hochemotionale, persönliche 'Blood Brothers'. Es wäre zu einfach, den letztgenannten Song auf seine universale Botschaft - Zusammenhalt, Vielfalt, Toleranz - zu reduzieren, denn er überzeugt auch auf der musikalischen Ebene vollends. Auf der The Book Of Souls World Tour habe ich ihn achtmal in drei Ländern gehört - und mich hat er immer erreicht. Ich bin mir sicher, dass jeder Metal-Fan, der sich nur ein bisschen für die klassische Spielart seines Lieblingsgenres interessiert, dieses Trio im Ohr hat und über weite Strecken mitsingen kann.
Die Zäsur
"Brave New World" markiert zweifellos eine wichtige Zäsur im Bandsound. Das lag zum einen an der Tatsache, dass erstmals ein Album mit drei Gitarristen eingespielt wurde. Entscheidender ist meiner Meinung nach jedoch die stärkere Fokussierung auf Longtracks. IRON MAIDEN wurden im Jahr 2000 progressiver - auch wenn manche Kritiker dieses Wort im Zusammenhang mit der Band nicht gerne verwenden. Ich finde, es passt durchaus, insbesondere bei recht vertrackten Nummern wie 'Ghost Of The Navigator', 'Dream Of Mirrors' und dem Schlusstrack 'The Thin Line Between Love And Hate'. Einige Alt-Fans verprellte das Sextett mit dieser neuen Ausrichtung, die sich weit von Perlen wie 'Prowler' oder 'Wrathchild' entfernte. Allerdings bin ich bis zum heutigen Tage froh, dass Steve und Co. nach der umjubelten Reunion nicht einfach ein weiteres Mal "The Number Of The Beast" aufgenommen haben. "Firepower" hat für mich diesbezüglich bei aller Klasse stets ein Geschmäckle, aber das ist ein anderes Thema ... Nein, man wagte Experimente - und man knüpfte am letzten Output mit Adrian Smith, "Seventh Son Of A Seventh Son", an, der bereits progressive Klänge enthielt, man lausche exemplarisch dem Titelsong. Wie wir wissen, riss der eigenwillige Bandkopf am Viersaiter das Ruder auf "No Prayer For The Dying" in eine ganz andere Richtung, nämlich Richtung Vergangenheit. 2000 stellten sich die "Eisernen Jungfrauen" jedoch der Zukunft. Dafür bin ich ihnen bis zum heutigen Tage dankbar.
Die Glanzlichter
Wenn ich Lieblingssongs benennen müsste, fiele meine Wahl auf zwei Nummern, die bis dato noch gar nicht genannt worden sind: 'The Mercenary' und 'The Nomad'. Bei jeder anderen Band dürfte das Duo ein Stammgast auf der Setlist sein, bei IRON MAIDEN spielt es leider keine Rolle. Das ist schade, weil das aggressive, aufputschende 'The Mercenary' einen der besten Refrains enthält, die jemals auf einer Platte der Truppe aus Ost-London zu hören waren. Und das mag angesichts des beeindruckenden Backkataloges etwas heißen! Dass es rundum 'The Nomad' vor einigen Jahren juristische Auseinandersetzungen gab, lasse ich hier einmal außen vor. Die Nummer schätze ich wegen ihrer einprägsamen Gitarrenarbeit, den tollen Strophen sowie der Gesangsleistung von Bruce.
Der Unterschiedsspieler
Und hier sind wir beim Thema: Bruce! Mr. Dickinson singt auf "Brave New World" um sein Leben und jeden an die Wand. In den Neunzigern hatte er solo mit "Accident Of Birth" und "Chemical Wedding", wie jeder Hörer mit funktionierenden Ohren weiß, IRON MAIDEN qualitativ weit, weit hinter sich gelassen. Nach seiner Rückkehr wollte der gereifte Künstler es offensichtlich allen zeigen. Das gelang ihm auf "Brave New World" eindrucksvoll. Noch eindrucksvoller geriet das Ganze jedoch im Rahmen der bereits angesprochenen "Rock In Rio"-Show, bei welcher die "Eisernen Jungfrauen" immerhin sechs Tracks der damals aktuellen Reunion-Scheibe präsentierten, die live erst ihre volle Pracht entfalteten - wie im Übrigen auch die ursprünglich von Blaze Bayley intonierten 'Sign Of The Cross' und 'The Clansman'. Bruce hievt IRON MAIDEN einfach seit 1982 auf eine andere Ebene, ER ist das entscheidende Puzzleteil. Nach "Brave New World" dürfte daran kaum noch jemand gezweifelt haben, abgesehen von ein paar Paul Di'Anno-Die-Hards, die den ganz alten, punkigeren Zeiten hinterhertrauerten ...
Sechs Freunde sollt ihr sein
"Brave New World" ist meines Erachtens - mit "A Matter Of Life And Death" - die stärkste nach 1988 veröffentlichte IRON MAIDEN-Platte, weil wir es hier mit echtem Teamwork zu tun haben: Lediglich einen Song, 'Blood Brothers', hat Steve im Alleingang komponiert, auf dem qualitativ deutlich schwächeren Vorgänger "Virtual XI" war dies noch viermal der Fall gewesen. Ansonsten ist das Material in unterschiedlichen Zweier- und Dreier-Kombis entstanden. Fraglos ein gutes Zeichen, nicht zuletzt hinsichtlich der Haltbarkeit des damaligen Line-ups, welches - ihr wisst es - bis heute Bestand hat. Die Herren, damals bereits jenseits der 40, sprudelten über vor Kreativität und Tatendrang. Wie ich aus vielen Gesprächen weiß, haben sie zahllose meiner Generationsgenossen mit Album Nummer zwölf erst für klassischen Metal begeistern können. In den Neunzigern waren andere Spielarten oder (zumindest zeitweilig) Grunge angesagt gewesen. Daher ist "Brave New World" zweifellos ein Meilenstein, dessen Bedeutung von Älteren oftmals gerne unterschätzt wird.
Top 5 - keine Frage!
Wo ist der Jubilar denn nun in der Diskografie einzuordnen? Nun, ich mag "Brave New World" mehr als die beiden Di'Anno-Platten (allen voran "Killers" verliert mich immer wieder auf der B-Seite, aber das ist für manche natürlich Blasphemie) und "Powerslave" hat zwischen den atemberaubenden Doppelpacks am Anfang und am Ende ein paar kleinere Durchhänger. Daher kann ich in meiner Welt Platz 5 guten Gewissens vertreten. Und so ende ich, wie ich begonnen habe, mit einem Listenwahn. Es geht halt nicht anders.