Interview mit Johannes Bergmann von Desolation

Ein Interview von Zephir vom 11.02.2014 (13589 mal gelesen)
Man mag es für ungewöhnlich halten, dass sich in einer Death-/Black-/Avantgarde-Metal-Band Reigionslehrer und studierte Popmusiker zusammenfinden. Dass Diversität der Sache aber nur gut tut, zeigen DESOLATION. Sänger Johannes Bergmann steht im Interview Rede und Antwort.

DESOLATION ist eine Band, von deren Neuigkeiten man nicht gerade überschwemmt wird. Das mag einerseits den unbestreitbaren Vorteil haben, dass sich die Firnis nicht durch unsinnige News und bloßes Namedropping abschürft. Andererseits kann ein bisschen Input ungemein helfen, leichter in Musik und Gehalt einzusteigen - und ich hatte zugegebenermaßen mit "Desoriented", dem dritten Album der Hannoveraner, keinen ganz leichten Einstieg. Umso spannender war der Austausch mit Sänger Johannes Bergmann, inzugedessen sich mir hinter den Songs ein Strom von Gedankenfetzen und Zusammenhängen offenbarte, der die Rezeption der Platte sicher nicht vereinfachte (dafür steckt einfach zu viel drin, was noch entdeckt werden will), aber ziemlich nachhaltig veränderte. Natürlich ist es nicht jedermanns Sache, sich mit den Inhalten von Metal-Alben auseinanderzusetzen, zumal wenn sie auf beklemmende Art und Weise unsere bisher selbstverständlich durchlebte Postmoderne zu überwinden drohen. Man kann auch einfach die Musik krachen lassen und genießen. Wer aber wie ich noch einen genaueren Blick in die Arbeit werfen möchte - oder vielmehr, ihr ein genaueres Ohr schenken will - der sollte sich einmal zu Gemüte führen, wie der Sänger und Texter die ganze Sache eigentlich sieht und denkt, der im "zivilen" Leben Religionslehrer ist und seine Töchter eher weniger für Metal begeistern kann ...

Unser Kontakt lief ja nun schon im Dezember des vergangenen Jahres und es ist inzwischen einige Zeit ins Land gegangen, seit ihr euer drittes Album rausgebracht habt. Was hat dich inzwischen umgetrieben?

Johannes Bergmann: Neben all diesen schönen Dingen wie Weihnachten, Jahreswechsel und ein paar Konzerten haben wir ein bisschen Zeit in die Dreharbeiten zu unserem ersten Video (zum Song "Home Is Where the Heart Is") gesteckt, was eine etwas anstrengende, aber auch sehr positive Erfahrung war. Wir hatten das große Glück, mit zwei sehr erfahrenen Videokünstlern arbeiten zu können, die genau wussten, worauf es ankommt und was sie wollten, aber auch mit uns als Band und mit unserer Musik vertraut sind. Ich habe das Endergebnis noch nicht gesehen, aber wir werden es baldmöglichst über unsere Website veröffentlichen.

Ihr habt im Winter einige Konzerte gespielt. Wie ist es gelaufen?

Johannes Bergmann: Die Zahl der Konzerte war zwar aus organisatorischen Gründen niedrig, aber die Reaktionen waren durchaus positiv. Ein paar der neueren Songs hatten wir bereits im Vorfeld immer schon mal vorgestellt - der Entstehungsprozess des Albums hat ja ein paar Jahre verschlungen - aber es war befreiend, mit der neuen Scheibe im Gepäck und mit einer frischen Optik (neue Website im Rücken, neues Merchandise, neues Backdrop etc.) loszulegen. Die neue CD und das Merch wurde uns dann auch zu unserer großen Freude gleich dankbar abgenommen.

Hast du eine Ahnung, aus welcher musikalischen Ecke eure Fans eigentlich kommen? Eure Musik ist nicht einfach zu klassifizieren, und viele Metaller finden Klassifizierungen an sich sowieso doof. Aber man liest über DESOLATION so unterschiedliche Dinge wie Melodeath, Progressive Black, Dark Metal - und eigentlich ist in eurer Musik ja auch von allem ein bisschen drin ...

Johannes Bergmann: Tja, da sprichst du eine sehr grundsätzliche Frage an ... Das ist halt Segen und Fluch der Postmoderne: Wie viele andere Kunstrichtungen hat sich Metal in den letzten zwanzig Jahren so stark in Strömungen und Unterströmungen zersplittert, dass eine klare Zuordnung sich eigentlich per se verbietet, es sei denn, man bemüht sich als Band explizit auf der Retroschiene um Zugehörigkeit zu einer der guten alten Genreschubladen, und das ist nun mal nicht unser Ding (auch wenn ich zugegebenermaßen von Herzen gern den Death Metal der frühen 90er höre; und auch wenn uns immer mal wieder vorgeworfen wird, wir wären im 90er Black/Death stecken geblieben - aber wer das sagt, hat meiner Meinung nach leider nicht genau genug hingehört). Glücklicherweise stört sowas unsere Fans gar nicht - im Gegenteil, die kommen aus so unterschiedlichen Ecken, dass es uns extrem stolz macht, sowohl eingefleischte Djent-/Metalcore-Jungspunde als auch Gothic-Damen oder Progressive-Rock-Großväter zu unserem festen Stamm zählen zu dürfen.

Wenn ich eure Musik mit anderen Bands vergleichen müsste, um einen Eindruck zu vermitteln davon, worum es sich musikalisch handelt, würde mir als erstes eine Mischung aus SAMAEL und GRABNEBELFÜRSTEN einfallen. Die Intonation deiner Stimme erinnert mich manchmal an Letztere. Würdest Du das so bestätigen, oder wie würdest Du die Beschreibung ergänzen?

Johannes Bergmann: Ja - mit SAMAEL hast du definitiv ins Schwarze getroffen. Das ist im Grunde die eine Band, auf die wir uns bei DESOLATION alle einigen können und die (mit wenigen Ausnahmen aktuelleren Datums) immer absolut eigenständige und großartige Alben gemacht hat. Jedes Mal wenn ich die "Ceremony" oder "Passage" höre, kriege ich die totale Gänsehaut. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich Grabnebelfürsten noch nie gehört habe, das muss ich dann wohl mal dringend nachholen. Ansonsten kann ich glaube ich gar nichts hinzufügen, denn unsere eigenen musikalischen Interessen in der Band sind so unterschiedlich, dass es nicht wirklich weiterhelfen würde, die aufzuzählen ... Lustig - aber auch ein wenig betrüblich - ist manchmal, dass man als Clone von Bands bezeichnet wird, mit denen man aber auch so gar nichts am Hut hat. So hört z. B. höchstens unser Gitarrist Nick ab und zu noch mal DIMMU BORGIR, und mit EISREGEN kann man uns alle jagen ...

DESOLATION machen jetzt seit zwanzig Jahren in der Formation Musik. Mit drei Alben habt ihr in dieser langen Zeit nicht gerade Massenware auf den Markt geschmissen, was, wie du in einem anderen Interview sagtest, auch an beruflichen und familiären Verpflichtungen liegt.

Johannes Bergmann: Tja, unsere Mühlen mahlen eben langsam, aber dafür brutal, hehe. Naja, mittlerweile hat man neben Musik eben einfach auch andere Beschäftigungen, die alle unter einen Hut gebracht werden müssen. Trotzdem ist DESOLATION beileibe kein beliebiges Seitenprojekt, an dem man mal arbeitet, wenn einen die Langeweile plagt. Wenn wir zusammenkommen, herrscht eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Aber kreative Prozesse kann man eben nicht beliebig beschleunigen. Manchmal braucht ein Song, eine Idee, einfach länger bis alle damit zufrieden sind - und das steht bei uns an ganz erster Stelle. Entweder ein Song wird von allen getragen und komplettiert, oder es kann eben kein DESOLATION-Song sein.

Beobachtet ihr zwischendurch die Entwicklungen in der Musikbranche?

Johannes Bergmann: Äh ... ich nicht. Ich höre hauptsächlich alten Death Metal und lasse mir hin und wieder mal was von den Bandkollegen empfehlen oder stolpere selbst zufällig mal über eine neue Entdeckung, aber ich informiere mich nicht zielgerichtet über Neuigkeiten. Aber da bin ich ein bisschen der Dinosaurier der Band. Unser Keyboarder Sebastian zum Beispiel ist da viel aktueller unterwegs und auch musikalisch viel, viel breiter aufgestellt als ich. Der hat ja immerhin auch Popmusik studiert ...

Würdest Du sagen, dass ihr als Band euren Stil weiterentwickelt habt und wenn ja, in wecher Hinsicht?

Johannes Bergmann: Weiterentwickelt hat sich der Stil auf jeden Fall, aber nicht als bewusst vorangetriebene Entwicklung mit einem bestimmten Ziel, also nicht im Sinne eines "wir wollen so oder so werden". Unsere Musik wird zum großen Teil von Tommi, unserem Schlagzeuger, geschrieben. Der hat vor ca. zehn Jahren progressive Musik für sich entdeckt und das wird dann wohl zunehmend deutlich in der Musik. Insgesamt kann man, glaube ich, eine Bewegung zu etwas komplexeren Ideen innerhalb der Songs beobachten, wobei die Strukturen der Songs dafür wieder einfacher und zugänglicher geworden sind. Vielleicht haben wir auch mehr gelernt, besser auf den Punkt zu kommen. Hoffe ich zumindest.

Ihr nehmt im eigenen Tonstudio auf. Für den Sound von "Desoriented" wolltet ihr eigentlich noch jemand Externes beauftragen, woraus aber schlussendlich nichts wurde. Ist die Produktion dadurch auch im Ergebnis anders geworden als geplant?

Johannes Bergmann: Nein, im Grunde ist "Desoriented" zum ersten Mal im Großen und Ganzen so ausgefallen, wie wir uns das gewünscht hatten. Nach ein paar Anlaufschwierigkeiten haben wir ja das Ruder wieder selbst in die Hand genommen und uns dafür gut beraten lassen. Sicher gibt es immer noch hin und wieder die Kritik, die Gitarren würden vom Keyboard etwas verdrängt, aber das Keyboard ist eben ein prägender Bestandteil unserer Musik und soll auch auf der ganzen Frequenzbreite präsent sein - das unterscheidet uns von Bands, die bloß mal hier und da Keyboardteppiche einflechten, wobei das Gestalten eines Gesamtsounds dadurch natürlich deutlich einfacher wird. Und man muss bedenken, dass wir keine Unsummen dafür ausgegeben haben (das hätten wir auch nicht gekonnt) - insofern bin ich sehr zufrieden damit.

Auf "Desoriented" finden sich zwei Songs mit zwei sehr unterschiedlichen Frauenfiguren - 'Dorothy' und 'On Bloodshed'. 'Dorothy' ist, wie Du einmal sagtest, inspiriert durch den "Zauberer von Oz", aber bei DESOLATION findet sie kein Happy End ... wie kamst Du auf so eine Idee?

Johannes Bergmann: In fast allen meiner Texte finden sich Anklänge und Zitate aus anderen Schriften, der Text spielt ja zum Beispiel auch mit alten Rock'n'Roll-Titeln. Intertextualität ist ein wichtiger Bestandteil meines Denkens, Fühlens und Assoziierens und eröffnet mir die Möglichkeit, Bedeutungsebenen anzureißen, die sonst in der verdichteten Form eines Songtexts so nicht erreichbar wären. Dazu kommt, dass das Album sich in den meisten Songs mit Fragen der Orientierung und Verortung beziehungsweise Heimat auseinandersetzt. Die Dorothy aus dem "Zauberer von Oz" wird ja von einem Wirbelsturm aus ihrem vertrauten Kansas gerissen und in eine fremde Welt gesetzt - sozusagen der Archetypus der entfremdeten Seele, Sinnbild einer zutiefst erschütternden, aber zugleich durchaus normalen menschlichen Erfahrung, egal ob wir das tatsächlich als körperliche Ortsveränderung (Umzug, Vertreibung, Exil) oder zum Beispiel entwicklungspsychologisch betrachten. Irgendwann stand dann da die Zeile "Sorry Dorothy, so far from home" auf dem Papier und von da her hat sich das andere alles irgendwie ergeben. Im wirklichen Leben haben wir eben einfach keine rotglitzernden Schuhe, die wir zusammenklacken und alles ist wieder gut. Dorothy musste einfach den naheliegenden Weg gehen - sie ist ganz klar nicht die erste und einzige, die in der Fremde keine Alternative mehr dazu sah, sich selbst zu verkaufen ...

Und was ist das lyrische Ich für ein Mann? Im Mittelteil ist so ein beklemmdender "stream of consciousness" ...

Johannes Bergmann: ... und dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis sie an den Falschen gerät. Dabei ist diese Figur gar nicht ein Jack the Ripper oder das personifizierte Böse. Im Gegenteil - er erschrickt selbst vor sich und seiner Tat. Auch das ist eine Entfremdungserfahrung: das soll ich sein? Was habe ich getan? Zum Glück bringt nicht jeder Mensch in seinem Leben irgendwen um die Ecke, aber das Erstaunen über die eigene Fähigkeit zum Bösen ist uns, glaube ich, recht vertraut ... und die - zutiefst egoistische - Frage "was jetzt?" auch. Das ist ein bisschen mein existentialistisches Laster (als Religionslehrer), dass ich das Individuum immer als archetypischen Menschen stilisiere, allein und etwas hilflos vor den großen Fragen unserer Existenz stehend ...

Und wie ist es mit 'On Bloodshed'? Ich hätte es für die Geschichte von Judith und Holofernes gehalten, aber es ist die Rede von einer modernen Judith. Wie ist das zu verstehen?

Johannes Bergmann: Du hast völlig recht - genau darauf bezieht sich die "latter-day Judith". In diesem Song geht es um Charlotte Corday, eine Girondistin während der französischen Revolution, die den Jakobiner Jean Paul Marat in der Badewanne erstach, in der Annahme, ihre Tat würde - wie die der biblischen Judith - weiteres Blutvergießen verhindern. Ich zeichne sie als zutiefst gestörte (das zeigt sich zum Beispiel in den unbalancierten, abgehackten, stets um den gleichen Gedanken kreisenden Textzeilen), aber von der Richtigkeit ihres Handelns vollkommen überzeugte Frau. Wie Lady Macbeth ist sie besessen von dem Gedanken an ihre Sauberkeit, aber anders als diese sieht sie in ihrer Tat nichts Böses, nachdem sie sich vollkommen in der Dunkelheit ihrer Weltsicht verirrt hat. Ihre historische Tragik ist, dass ihr statt der erwarteten Anerkennung die Guillotine zuteil wurde.

'Ich hasse ein bisschen die Welt' hat mich am Anfang ziemlich frappiert und ich wusste nicht, was ich von diesem Titel halten soll. Aus dem Genre kennt man ja gerne mal misanthropisches Verbalgekloppe, aber das ist es hier überhaupt nicht, es ist so eigenartig uneindeutig. Mittlerweile liebe ich diesen Song, weil ich glaube darin eine ganz bestimmte Tagesform wiederzuerkennen, die wahrscheinlich viele Leute schon einmal durchlebt haben. Es hat etwas Kindliches ... der Titel kommt, soweit ich weiß, von deiner Tochter?

Johannes Bergmann: Ja, meine mittlere Tochter hat so eine ganz eigene Art, ihr Missfallen auszudrücken. Wir waren mal irgendwann in der Pfalz unterwegs und auf einer Wanderung hat sie mit etwa fünf Jahren deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie keineswegs bereit sei, auch nur noch einen Schritt weiter zu gehen. Dabei fielen auch diese Worte, die ich sofort als möglichen Songtitel abgespeichert habe. Daraus ist dann tatsächlich ein recht ambivalentes Stück geworden, von einem zutiefst grantigen Menschen, der die Schnauze von allem einfach nur voll hat - und ja, das können auch Kinder ganz gut, meine zumindest - und den ich mir ein bisschen wie einen abseitigen Beobachter vorstelle, der wie bei einem alten Videorecorder ungeduldig den Bildsuchlauf anschmeißt und sich dann über das absurde Gerenne amüsieren kann, aber dann dennoch zugeben muss, dass die Welt auch Berührendes bereit hält. Für mich sind das stets die Zugvögel, die sich in Herbst und Frühjahr über meinem Haus sammeln und weiterziehen, wie ein Versprechen, dass es irgendwie weitergeht.

Meine letzte Frage: hört Deine Tochter eure Musik?

Johannes Bergmann: Nein, meine beiden selbstständig denkenden Töchter, aktuell 7 und 11, hassen (ein bisschen) unsere Musik. Bei unserer Jüngsten (10 Monate) gebe ich mich noch Hoffnungen hin – neulich hat sie zu BOLT THROWER fröhlich den Kopf geschüttelt und gerade jetzt sitzt sie da und kaut auf einem Gitarrenkabel rum - aber ich fürchte, dass da der Einfluss der großen Schwestern übermächtig sein wird ...

Ich bedanke mich ganz herzlich bei dir für das Interview! Bitte formuliere du den Schlussatz:

Johannes Bergmann: Vielen Dank für dein Interesse an DESOLATION und dass du uns eine zweite Chance gegeben hast. Vielleicht geht es ja der werten Leserschaft ähnlich - schaut mal bei www.desmetal.de rein und bildet euch euer eigenes Urteil. Ach ja, und: wenn es bei euch einen örtlichen Untergrund gibt – runter vom Sofa und Metal genießen! Davon lebt die Szene und unser aller liebste Musik.

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