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Das Wacken vom heimischen Sofa aus wahrgenommen |
Ein Artikel von Opa Steve vom 07.09.2014 (20041 mal gelesen) |
Ach, Wacken ... nein, eigentlich nicht der Ort, sondern das W:O:A (in der coolen Schreibweise) ... an Wacken kommt man nicht vorbei. Ich persönlich war noch nie auf diesem Festival, obwohl ich vom Alter her sogar die Hochzeiten des Dynamo Open Air erlebt habe, welches ja bekanntlich lange vor dem Wacken-Erfolg DAS Metal-Festival schlechthin in Europa war. Aber im Vergleich zu Wacken gab es beim Dynamo Open Air einen großen Unterschied: das Dynamo Open Air hatte schon deutlich über 100000 Zuschauer gezogen. Nicht, dass ich das gutheiße - ich finde schon 40000 ziemlich ungemütlich. Aber das Dynamo Open Air war nie so überkommerziell wie das Wacken. Man muss es sich auf der Zunge zergehen lassen. Es kamen vor 20 Jahren über 100000 Metalheads nach Eindhoven. Woodstock'sche Ausmaße im Heavy Metal Universum. Und das ohne Dauerberichterstattung in FAZ und Süddeutsche und ohne ständige Sendungen in GEZ-finanzierten Medien. Mensch, wie haben die das bloß gemacht? Und ob sich die Wacken-Macher darüber nicht auch den Kopf zerbrechen, wie das damals ohne den ganzen Zirkus möglich war?
Ja, Wacken und die Breitenwahrnehmung. Das ist schon ein verrücktes Ding. Das Festival mag unter den größten zehn in Europa sein, aber es ist ja nicht DAS GRÖßTE. Und dennoch hat es sich wohl quer durch alle Medien etabliert, 2 Wochen davor und danach im Wacken-Ausnahmezustand zu sein. Abgesehen vielleicht vom Rock Am Ring wird kein Festival von der Presse so hofiert wie Wacken. Als Metalhead schämt man sich schon fast dafür, dass sich von Focus bis Lokalzeitung offenbar sämtliche Redaktionen dafür akkreditieren zu lassen, um zu ... na zu was eigentlich? Über die Bands zu berichten? Ja, manchmal auch das. Aber primär geht es darum, möglichst viel verrückte Schlammrutschen, kreisende Matten, verkleidete Idioten und Mallorca-Publikum zu fotografieren und zu berichten, wie verrückt die doch alle sind, diese Metaller. Nebenbei bemerkt: hat eigentlich schon mal jemand eine Erhebung gemacht, wie hoch der Metalleranteil auf dem Campground eigentlich ist? Eigentlich könnte man jedes Jahr immer die gleichen Bilder in die Zeitungen bringen und sich die Akkreditierung sparen. Ein Besuch im Reservat der exotischen Wilden, im Menschenzoo. Es fällt doch gar nicht weiter auf, wenn 2015 der gleiche Hansdampf mit rosa Riesensonnenbrille und grünem Plüschhut pommesgabelzeigend abgedruckt wird. Aber es ist immer die Zeit, wo ich mich wegducke so gut es geht. Kollegen, Bekannte, Nachbarn, ja sogar Verwandte haben nämlich diese betroffenen vier Wochen lang ein irre drängendes Anliegen, mir als langhaarigem bekennenden Metalhörer genau DIESE EINE Frage zu stellen: "Naaaaa, fährste/warste auch aufm Wackeeeeen?", und dabei grinsen sie einen vielsagend an, als würden sie sich im Kopf schon ausmalen, wie ich schlammbesudelt mit rosa Riesensonnenbrille und grünem Plüschhut meinen Rausch ausschlafe. Vielleicht erwarten sie auch von mir noch ganz wilde Insider-Stories, die sich die Presse nicht zu berichten traut. Vielleicht was über Teufelsbeschwörung oder Ritualmorde. Keine Ahnung, was die noch erwarten. Da das inflationäre W:O:A-Logo ja bundesweit von Heckscheiben bekannt ist und Wackinger-Dorf, Dildos, Wrestling und Schlammcatchen, Bülent Ceylan und natürlich die ach so witzige Feuerwehrkapelle jedes, wirklich JEDES Jahr in keiner RTL-Vorabend-Reportage fehlen dürfen genauso wie die erwähnten Bekloppten ... WAS erwartet man denn noch Neues? Etwa Bands? Ach so, stimmt, die sind ja auch noch da. Ich muss dann immer lange erklären, dass mich auch unter diesem Gesichtspunkt Wacken noch nie gereizt hat, dass ich mich nicht eine Stunde vor einer Band durch Tausende nach vorn drängen möchte, dass ich keine halbe Stunde bis zum Zelt laufen möchte, und dass ich vor allem lieber mit wenigen Musikenthusiasten abfeiere anstatt in abstrakten Massen. Ja, dann schauen die Leute immer enttäuscht, dass ich keiner von diesen Wacken-Pilgern bin und nichts erzählen kann.
Aber es geht noch schlimmer. Da sitzt man dienstlich mit Kollegen zusammen und spricht über nüchternen Kram. Und in einer Pause kommt so ein jüngeres, nettes, aber äußerlich wie emotional kurzhaariges Exemplar auf mich zu und meint mit glänzenden Augen: "Und? AUCH nach Wacken am Mittwoch?". Seinem erwartungsvollen Blick und dem überbetonten "auch" entnehme ich, dass er wohl eigentlich mitteilen wollte, dass er nach Wacken fährt. Ich mache also wieder mein Sprüchlein, warum ich eben nicht nach Wacken fahre, lasse mich aber auf höflichen Smalltalk ein und frage ihn, welche Bands ihn denn reizen würden. Vielleicht irre ich mich ja, und er ist tatsächlich ein musikalischer Bruder. "MOTÖRHEAD gucke ich mir an! Und SLAYER und JBO!". Und strahlend erwartet er mein Urteil. Hmmm, das waren gerade die Bands, die nun wirklich jeder kennt. Ich frage stattdessen nach Perlen wie CHTHONIC, DEVIN TOWNSEND, EMPEROR. Hä? Ne. Na, vielleicht KING DIAMOND? Ach, kennt er auch nicht. Alles klar. OK, dann fahr nach Wacken zu MOTÖRHEAD, SLAYER und JBO, mach Party und sei glücklich. OK, ich habe es etwas höflicher ausgedrückt. Aber mir wurde wieder schlagartig klar, wie ungern ich mit nichtmetallischen Menschen über Wacken rede. Nicht nur, weil sie mich ständig deswegen fragen, sondern weil sie mittlerweile selbst hinfahren. Ist noch schlimmer. Metal als Erlebnisreise. Und natürlich gehört es zum guten Ton, dieses Bändchen bis zur übelsten Hautreizung noch Monate nach dem Festival zu tragen, bis jeder in der Stadt und auf der Arbeit auch geschnallt hat, dass man in Wacken war. Dass man dabei war. Dass man dazugehört.
Ich denke, ihr versteht meine selbst gewählte Distanz. Also habe ich das Phänomen "Wacken" - wie übrigens jedes Jahr - wieder vom heimischen Sofa aus betrachtet. Wenn schon auf den Monitor-Boxen das Logo von "zdf.kultur" einträchtig neben Becks und Monster einen Hauch von Hipness einheimsen darf, dann gönne ich mir als Gebührensklave doch perfektes Bild und meist sogar annehmbaren Sound und freue mich, dass sich die Kultursender der Öffentlich-Rechtlichen wenigstens auf Gigs beschränken, anstatt den oben zitierten Quark wie Erste-Reihe-Headbanger, Schlammrutscher und schräge Vögel wiederzukäuen. Der erste Lacherfolg stellt sich aber grundsätzlich bei der An- und Zwischenmoderation ein, wenn der Sender vermeintlich coole junge Kollegen so richtig Metal-konform in Szene setzen will. Da springen dann Hadnet Tesfai und Rainer Maria Jilg mit sauberstem Alibi-Leder und frisch gebügeltem MACHINE HEAD-Shirt vor der Kamera rum und tun so, als würden sie den ganzen Tag CHILDREN OF BODOM hören. Die Normalbürger-Dazugehörigkeit macht offenbar auch vor Moderatoren nicht Halt. Aber sei's drum, eine ganze Reihe mehr oder weniger geiler Gigs wurden in drei Kanälen geboten, da kann man über die genrefremden Pressemappen-Auswendiglerner und ihre verzweifelten optischen Tarnversuche mal hinwegsehen.
Ansonsten läuft die Maschine rund, und das ist das wirklich Faszinierende an Wacken. Das Festival ist zur selbsterfüllenden Prophezeihung geworden. Die Tickets verkaufen sich ja auch schon bei rudimentärem Lineup ein Jahr im Vorraus binnen weniger Stunden. Ich erwähnte ja schon, dass die Bands und die Musik ja eh da sind, und bei 100 Bands wird ja sicher was dabei sein, was einem gefällt. Ob man diese auf gefühlt drölfzig Bühnen dann auch noch sehen kann, wie man sich das nüchtern vor der Abreise vorgenommen hat, steht ja auf einem ganz anderen Blatt. Meine Güte, es ist schließlich Wacken. Und der Rubel muss rollen, denn mit voller Kriegskasse und dem Kultstatus kann man nicht mehr verlieren. Mittlerweile ist es ja auch schick geworden, sich jedes Jahr irgendeine Reunion oder irgendwas mit Orchester einzukaufen. Wie geht das? Na, man muss so viel Geld bieten, dass die Band nicht Nein sagen kann. Das ging 2006 mit EMPEROR schon los. Vorher durfte ich mit Ihsahn plaudern, der mir noch versicherte, dass sie sich nicht wegen der Kohle nochmal für Wacken zusammenrauften, sondern nur ihre Abschiedsgigs auf großen Festivals spielen wollen. Ungefähr so wie dieses Jahr nochmal für alle, die den Abschied 2006 nicht mitbekommen haben. Doppelt hält schließlich besser! Und nächstes Jahr freuen wir uns auf "UDO with Bundeswehr-Musikkorps", was an Originalität kaum hinter besagter Feuerwehrkapelle zurücksteht. Bis dahin freut sich eine zunehmende Zahl derer, die wieder eine neue lohnenswerte Symbiose mit dem W:O:A aufgetan haben: neben Lebensmitteln, Trinkwasser und Waffen betrachtet man nun auch Wacken-Tickets als Geldanlage! In Niedrigzinsphasen ist es ja wirklich eine klasse Idee, einfach das Festival auszuverkaufen und mal 10 überschüssige Tickets in der Hinterhand zu haben. Wenn man pro Ticket auf eBay wieder 70-100 Euro Gewinn machen kann toppt das jede Unternehmensanleihe. Die bekloppten Käufer legen die Kohle ja tatsächlich auf den Tisch. Ich glaube, spätestens 2015 heißt es auch bei JPMorgan und Goldman Sachs: Freu dich, du bist in Wacken!
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