Anomalie - Riverchild

Review von Zephir vom 30.10.2024 (14589 mal gelesen)
Anomalie - Riverchild "Riverchild" - der Titel der angekündigten neuen Platte von ANOMALIE hat mich sofort mit zahlreichen unweigerlich aufkommenden Assoziationen gecatcht. Schon immer haben sensible Künstlernaturen die Nähe zum Wasser gesucht und diese Erfahrung gemäß ihres Mediums verarbeitet; für diejenigen, die an Flüssen, Seen, Ozeanen aufgewachsen sind, mag das umso eindringlicher gelten. Belassen wir es aber hier bei diesem Allgemeinplatz, denn im Folgenden geht es um den neuesten Output der Österreicher ANOMALIE.

Bereits seit über einem Jahrzehnt existiert das Projekt von Chris Brauch aka Marrok, der aktuell für Vocals und alle Instrumente verantwortlich zeichnet (außer für die Drums, da hat er Lukas Schlintl mit am Start). Bisher haben ANOMALIE vier Vollalben veröffentlicht: "Between The Light" (2014) bewegte sich noch in urbanen, von Depressive Rock geprägten Gefilden. Ich erinnere mich gut an die Platte, die von einer gewissen Jugendlichkeit umhüllt, aber äußerst vielversprechend war. Vom Erstling angefixt, habe ich auch dem 2015 erschienenen "Refugium" mit großer Aufmerksamkeit gelauscht, über welches das dritte Werk "Visions" (2017) schließlich eine vorläufige Klimax darstellte - ANOMALIE wurde, damals mit größerer Besetzung verstärkt, zu einem leicht experimentellen, im besten Sinne spirituellen Extreme Metal-Vertreter der vorderen Klassen. Es folgten die EP "Integra" (2018) und ein weiterer Langspieler namens "Tranceformation" (2021), auf denen Marrok und teilweise Gastmusiker (darunter auf dem letzten Album auch Sakis Tolis von ROTTING CHRIST) mit verschiedenen avantgardistischen Elementen experimentierten, dabei den mystischen Stil verfeinerten und gleichsam weiteten.

"Riverchild" ist nun der fünfte Langspieler eines Künstlers, der an einem großen europäischen Strom, namentlich an der Donau, aufwuchs und dessen Sicht auf die Welt durch die lebensspendenden und lebensnehmenden Gefilde am Rande des großen Wassers geprägt wurde. Klingt lyrisch? Persönlich empfinde ich den Extreme Metal von ANOMALIE auch durchaus als lyrisch und vor allem als tiefsinnig. "Riverchild" beweist erneut musikalischen und inhaltlichen Tiefgang mit einem Facettenreichtum, der sich zwischen Schwarzmetall, Death, Doom und mit traditionellen Tribal-Klängen experimentierenden Elementen bewegt. Es geht dabei nicht allein um die Erde und das Wasser, sondern offenbar auch um von uns weit entfernte und dennoch wirkmächtige kosmische Aspekte - was sich, wie ich behaupten möchte, von den ersten Takten an in der Melodik und Harmonik bemerkbar macht. Der Opener 'Mother Of Stars' zeigt sofort einen offenkundigen Hang zu (in positivster Weise) okkulter Metaphysik, wenn Percussion und an Sitar erinnernde Töne die Platte in schwerem, gedrosseltem Tempo wie in Trance eröffnen und in mehreren Schichten gelayerte Clean Vocals düster und hypnotisch einsetzen. Der stets etwas raue Cleangesang erinnert noch an die Depressive Rock-Anleihen der früheren Jahre; das Geheimnisumwobene, was diesem Timbre innewohnt, erhält in der Urgewalt der Harsh Vocals eine komplett andere, aber nicht minder hypnotisierende Klangfarbe. Dazu passt die Mystik der verminderten, "orientalisch" klingenden Gitarrenharmonien ebenso gut.

'An Unforgiving Tide' zieht alsdann mit dem Tempo an. Die Vocals schwanken zwischen clean und Growls; die relativ stabile Tonhöhe der Gesangsline erinnert an manchen Track aus dem Ur-Goth der 1980er Jahre. Dass wir uns mit ANOMALIE aber ganz woanders bewegen, beweisen das kurz danach einsetzende Drumgeknüppel und die geshouteten Growls, die sich in einzigartiger Manier mit einem archaischen Kehlkopfgesang vermischen. Apropos einzigartig, natürlich mag einem dieses Stilelement bekannt vorkommen - wer dereinst den einen oder anderen okkulten Tribal-Titel von ROTTING CHRIST goutiert hat, könnte auch hieran Gefallen finden. Vergleiche funktionieren aber nur bedingt, weil ANOMALIE schon vor Jahren einen ganz eigenen Stil gefunden und feingeschliffen haben. Wir haben hier eine musikalische Mischung, die bereits auf "Tranceformation" bestens funktionierte und nun noch weitere Nuancen erhält. Dazu tragen Elemente aus Black, Death und Doom ebenso bei wie die folkloristisch-archaischen Elemente und die charismatische, variationsreiche Stimme des Frontmanns.

Mit Blastbeat startet 'Perpetual Twilight', ein Song, in dem ebenso wie in 'Awakening' am meisten Black Metal-Einfluss zum Tragen kommt und sich atmosphärisch eine Mischung aus Melancholie und zorniger Naturgewalt ausbreitet. Anleihen aus Depressive- und Post Rock sowie ein verhaltenes, spannungsvolles Interlude mit Akustikgitarre finden wir in 'Heart To Beat', einem Song, der in in seiner Monotonie zwischen den anderen unterzugehen droht, seine Stärke aber eben in der tranceartigen Wirkung entfaltet.

Wenn der Titeltrack 'Riverchild' beginnt, wähnt man sich, eingehüllt von Wasserrauschen, Vogelstimmen und einer perkussiv angeschlagenen Akustikgitarre, fast irgendwo im Neofolk - aber nur fast, denn die verminderten Harmonien wirken im Kontrast zu den Natursounds mysteriös, sinister und alles andere als friedlich. Als in deutlich gezügeltem Tempo die elektronische Verstärkung und der Gesang einsetzen, wird es doomig-rätselhaft, geheimnisvoll und irgendwie unheildräuend. Die Lyrics liegen mir leider nicht vor, doch hatte ich im Vorfeld noch angenommen, das Riverchild sei der Mastermind höchstpersönlich, so scheint es mir nun irgendeine andere, möglicherweise in ihm selbst, möglicherweise aber auch außenstehende Instanz, die sein Geschick zu steuern und zu bestimmen vermag.

Die Stimmung bleibt okkult, wobei 'Among Shadows' wieder mit metallischer Wucht einschlägt. Man beachte hier neben dem auffäligen, beschwörungsformelartigen Chorus die überaus dezenten, aber nicht zu überhörenden Synthie-Töne um Minute vier herum, die wie Wassertropfen in das bedrohliche musikalische Geschehen perlen. Insgesamt verstärkt sich der Eindruck, "Riverchild" bewege sich ständig an der Grenze zweier (oder mehrerer) Welten, die beide dem Menschen nur bedingt zugänglich sind. Damit erinnert mich das Werk atmosphärisch an AGALLOCHs "The Serpent And The Sphere" (2014), wobei das musikalische Geschehen hier ganz anders gelagert und ähnlich schwer zu kategorisieren ist wie beispielsweise das der deutschen Kollegen FJOERGYN. Diese zwei Bands seien hier genannt, um jenen, die ANOMALIE bisher nicht kennen, ansatzweise einen Hinweis zu geben, mit welcher Größe an stilistischer Eigenständigkeit wir es hier zu tun haben.

In die metaphysische Kerbe haut denn auch 'A Cosmic Truth' mindestens mit dem Songtitel. Der death-doomige Track kulminiert am Ende in einem Blastbeatgewitter, nach dem der Rausschmeißer mit dem versonnenen Titel 'Thoughts' nur einen Kontrast bilden kann: neofolkig, dunkel, raunend, mit Akustikgitarre, Percussion und teils geflüsterten Vocals. Stimmlich gibt der Sänger hier noch einmal alles, und sein Organ überzeugt mich in allen Facetten wie sonst eigentlich nur ein Ulf Theodor Schwadorf.

ANOMALIE haben ihre ganz persönliche musikalische Signatur gefunden und zeichnen diese mit "Riverchild" erneut. Das Album hinterlässt mich berührt, bewegt, ein wenig verwirrt und mit vielen teils realen, teils erinnerten, teils geträumten Bildern im Kopf - eine Wirkung, die ich in dieser Wucht nur von wenigen Bands kenne (beispielsweise von den oben genannten FJOERGYN). "Riverchild" ist definitiv nichts für nebenbei, aber das erwartet sicher auch niemand, der sich mit ähnlich gelagerter Musik befasst. Von mir gibt es die Höchstnote und die sichere Platzierung unter meinen ganz persönlichen Alben des Jahres 2024.

Gesamtwertung: 10.0 Punkte
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Trackliste Album-Info
01. Mother Of Stars
02. An Unforgiving Tide
03. Perpetual Twilight
04. Heart To Beat
05. Awakening
06. Riverchild
07. Among Shadows
08. A Cosmic Truth
09. Thoughts
Band Website: www.facebook.com/The.Anomalie.Experience
Medium: CD, LP, Digital
Spieldauer: 53:39 Minuten
VÖ: 01.11.2024

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