Ein Artikel von Zephir vom 12.04.2020 (26211 mal gelesen)
Live-Konzerte "in Zeiten wie diesen"
Außergewöhnliche Zeiten zwingen uns nicht nur zu außergewöhnlichen Taten. Man kann es mitunter positiver ausdrücken: Oft genug motivieren sie uns auch dazu. Weltweit sehen sich derzeit Musiker, Veranstalter und Fans mit den pandemiebedingten Veranstaltungs- und Konzertverboten konfrontiert, die das Metal-Frühjahr 2020 lahmzulegen scheinen. Jetzt lautet die Devise: Nicht klein beigeben, immerhin leben wir im 21. Jahrhundert! So schwer es vor allem Musiker und Veranstalter trifft, wenn ganz Touren abgesagt werden müssen, so dringend müssen Lösungen her, die die Metal-Erde weiter in der Achse halten. Nachdem die Nordamerika-Tour der finnischen Melo-Deather INSOMNIUM und OMNIUM GATHERUM abgesagt werden musste, bescherten diese ihrer Fangemeinde ein Ostergeschenk der besonderen Art und planten einen Live-Konzert-Stream am 10. April - online mitzuerleben weltweit, jeder zu seiner Uhrzeit, aber doch alle zur gleichen Stunde.
Natürlich sind die Umstände, unter denen die Beliebtheitswerte von Livestream-Formaten binnen kürzester Zeit durch die Decke gingen, alles andere als glücklich. So konstatiert Markus Vanhala, Gitarrist beider Formationen, vorab selbst auf Facebook, noch vor Kurzem hätte er den Gedanken an einen derartigen Gig mit Ticketverkauf für absurd befunden. Aber es musste etwas geschehen jenseits der Quarantäne, Metalheads auf der ganzen Welt dürsten nach musikalischem Leben, und in allen Herren Ländern sitzen ohnehin alle mehr oder weniger zu Hause fest … und so löst die am 2. April in den sozialen Medien annoncierte Info über das nur wenige Tage später anstehende Konzert wahre Begeisterung aus!
Einen professionellen Streaming-Anbieter hat man bereits gefunden, und darüber hinaus wird allerhand unternommen, das Event so persönlich wie möglich zu gestalten: INSOMNIUM lassen die Fans darüber abstimmen, welche Titel in der Setlist Platz finden sollten. Ein Aufruf der Bands zum Thema "Welches Shirt tragt ihr während des Konzerts?" wird gestartet, die Reaktionen in Form von Fotos können auf der Facebook-Seite gepostet werden; während des laufenden Gigs soll ein Live-Chat die Publikumsreaktionen allen zugänglich machen. Kurzum: Alles scheint so perfekt, wie ein Konzert während der noch immer verhängten Ausgangsbeschränkungen eben perfekt sein kann.
Was bleibt mir als Konzertbesucher zu tun? Im heimischen Wohnzimmer wird der Laptop an den Fernseher angeschlossen, ein kleiner Soundcheck vorgenommen, Getränke parat gestellt; das T-Shirt-Problem, mich nicht für entweder INSOMNIUM oder aber OMNIUM GATHERUM entscheiden zu können, ist ebenfalls höchst metallisch gelöst.
Die Fans in den sozialen Medien kündigen an, auf dem heimische Fußboden ein wenig Bier zu verschütten, damit es artgerecht bappt und klebt. Auch den nervigen Typen, der immer exakt vor einem das Handy zum Mitfilmen hochhält, werde man vermissen, oder jenen, der sich seit Wochen nicht geduscht hat und auch bei jedem Live-Gig neben einem steht. Für mich auf dem eigenen Sofa verspricht dies, das flauschigste Metal-Konzert ever zu werden.
Aber es kommt alles anders "in Zeiten wie diesen", in denen offenbar nicht nur die Zukunft, sondern auch die Gegenwart unplanbar ist: Als ich mich kurz vor Konzertbeginn einwählen will, kommt es zu technischen Schwierigkeiten, die das Login zum Livestream unmöglich machen. Kurz breitet sich leichte Panik in mir aus: Fangen die anderen jetzt ohne mich an? Doch meine anfängliche Sorge lässt sich durch paralleles kontinuierliches Mitverfolgen der Facebook-Seiten von INSOMNIUM und OMNIUM GATHERUM immerhin zerstreuen: In der Tat liegen die Schwierigkeiten nicht auf meiner Seite, sondern beim Streaming-Provider.
Die Fangemeinde reagiert glücklicherweise überaus solidarisch mit den Musikern, denen auch kaum mehr bleibt als abzuwarten, selbst die gute Laune nicht zu verlieren und die wartenden Fans weltweit ebenso bei Laune zu halten. "Gemeinsam" zischt man das eine oder andere Bierchen, beteuert sich die Treue und wartet geduldig ... bis nach etwa zwei Stunden der Stream tatsächlich in dieser Form gecancelt werden muss. Die Technik hat versagt ob der vielen Zugriffsversuche auf die Plattform. Au weia! So leid ich mir selbst in diesem Moment mit meiner enttäuschten Vorfreude tue, noch viel mehr tun mir die Jungs von INSOMNIUM und OMNIUM GATHERUM leid, deren Vorbereitung wirklich professionell organisiert gewesen war. Auf die Info, man könne sein Geld zurückerstattet bekommen (in Deutschland hatte das Ticket knapp 9 Euro gekostet), reagieren zahlreiche Fans empört - schließlich ist dies nicht die Schuld der Bands, und die große Vorarbeit bis zum Aufbau der kompletten Bühnentechnik ist ja auch bereits geleistet worden.
Immerhin fällt der Gig nicht aus: Das finnische Double-Trouble-Konzert wird noch am gleichen Abend komplett aufgenommen und am 11. April online gestellt; Ticket-Inhaber können so die Musik miterleben, die zwar nicht live gespielt wird, sich aber beinahe so anfühlt.
OMNIUM GATHERUM
Die erste Stunde zerlegen OMNIUM GATHERUM die Bühne, die aus verschiedenen Perspektiven zu sehen ist. Schon das erste Intro-Grollen macht Gänsehaut, und als Jukka Pelkonen mit dreifach besetzter Saitenfraktion im Geleit für ein donnerndes 'The Burning' zum Bühnenrand vormarschiert, da vergesse ich tatsächlich, in welcher Situation wir alle gerade stecken. Vermutlich vergessen meine Nachbarn in diesem Moment auch, was für eine ruhige Zeitgenossin ich doch bin. Mein Wohnzimmer bebt!
Trotz der langen Warterei sind die Jungs in Form und haben eine bombige Setlist mit ganz besonderen Überraschungen parat. Neben neuen Gassenhauern des letzten Albums "The Burning Cold" (2018), wie 'Be The Sky' und 'Over The Battlefield', gibt es auch ältere Titel auf die Ohren, so beispielweise das (gefühlt gar nicht mal so alte) 'Soul Journeys' vom 2011er Album "New World Shadows", mit dem der Frontmann in einer kurzen Anmoderation kurz Bezug nimmt auf die eigenartige Stimmung, die sich weltweit ausgebreitet hat. Der Song, einer meiner Lieblinge der Band, ist wie immer auch halb-live ein starkes Brett voller lyrisch-philosophischer Nachdenklichkeit.
Auch 'Nail' vom noch älteren Opus "The Redshift" (2008) ist mit dabei. OMNIUM GATHERUM spielen zu sechst; wer da noch die Saitenliga verstärkt, kann ich leider nicht ausmachen. Ist das noch Joonas Koto (jetzt müsste man halt vor der Bühne stehen!)? Wenn Pelkonen zwischenzeitlich die Kehle mit einem Schluck Bier befeuchtet, proste ich ihm in Richtung Fernseher zu. So viel ist klar: Diese Konzertaufzeichnung ist genau das Richtige gegen deprimierte Quarantäne-Verstimmung!
Setlist ONMIUM GATHERUM
The Burning
Gods Go First
New Dynamic
Frontiers
Soul Journeys
Over The Battlefield
Crystal Mountain (DEATH-Cover)
Be The Sky
Nail
Skyline
Refining Fire
The Unknowing
Nanu, was kommt nach 'Over The Battlefield'? Der Titel wird anmoderiert mit einem Zitat aus seinem legendären Refrain: "Inside something something evil takes its form ...". Ein DEATH-Cover! Spieltechnisch versiert und mit genialen Skalen versehen, die in ihrer mehrstimmigen, parallel geführten Version dem Original in überhaupt nichts nachstehen, zieht es mir, meines Zeichens gar nicht mal ein großer Fan der Amerikaner, glatt die Flauschsocken aus. Ich gestehe, die finnische Version mit Pelkonens dunkler Stimme ist - an dieser Stelle und in diesem Rahmen - noch much more ass-kicking als das legendäre Original!
Mit dieser Hammerstimmung führen OMNIUM GATHERUM auch durch die weiteren Songs, die den Spirit des finnischen Melo-Death direkt in die heimischen vier Wände transportieren. Der Kracher 'Skyline' darf natürlich nicht fehlen, und gekonnt platziert sind das pulstreibende 'Refining Fire' als vorletzter Titel und das wie immer verträumt und tröstend wirkende 'The Unknowing' am Ende der Show.
Geilomat! Wenn schon keine Präsenz-Live-Konzerte in nächster Zeit, dann bitte wenigstens mehr in dieser Form!
INSOMNIUM
Nach etwa einer Stunde betreten INSOMNIUM die Bühne. Genau genommen gibt es erst ein kleines Intro, das klingt wie eine finnische Volksweise, bis die Jungs erscheinen - zu viert. Ist nicht Jani Liimatainen seit 2019 als zusätzlicher Gitarrist und Clean Vocalist mit dabei? Wer fehlt dann? Schwer auszumachen aufgrund der Videoübertragung auf dem TV-Bildschirm, dessen Bildqualität leider ein wenig zu wünsche übrig lässt. Anfangs sind die Musiker dem Drummer zugewandt, die Lichter blitzen, wie es sich gehört, ich versuche anschließend eine Identifikation anhand der Oberarm-Tattoos. Jedenfalls bebt auch mit zwei Gitarren der Boden unterm Wohnzimmerteppich, als es donnernd mit 'Valediction' vom jüngsten Album "Heart Like A Grave" (2019) losgeht. Unglaublich gut überträgt sich der mehrstimmige Cleangesang - trotz der langen Warterei, das muss noch einmal betont werden!
Wie bereits gesagt hatten die Jungs im Vorfeld ihre Fans abstimmen lassen, welche Songs gespielt werden sollen, und in der kommenden Stunde liefern sie die zehn Songs mit den meisten Stimmen:
Sevänen begrüßt die Fangemeinde in der ganzen Welt und im Internet. Ein Glück für uns alle, dass die Musiker trotz aller Widrigkeiten ihr Ding an diesem Abend durchziehen! INSOMNIUM bieten eine gute Mischung aus neueren und älteren Songs, wobei ihre Musik bei aller Wucht, bei allen Lichteffekten und bei aller Death-Melodik wie so oft insgesamt leicht melancholisch zu mir rüberkommt. Nordisch melancholisch halt - so wie wir es lieben.
Setlist INSOMNIUM
Valediction
Pale Morning Star
Through The Shadows
The Killjoy
Down With The Sun
One For Sorrow
Ephemeral
In The Groves Of Death
While We Sleep
Heart Like A Grave
Mit dem folgenden 'Pale Morning Star', ebenfalls vom jüngsten Album, kommen teils introvertiertere Töne durch die Boxen, die in fulminantem Bombast enden. Ein paar wenige Worte verliert der Frontmann anschließend über die abgesagte Nordamerika-Tour. Mit langen Moderationen halten sich aber auch INSOMNIUM nicht auf, denn hier wird vor allem ordentlich Metal gezockt.
Die Reihenfolge der Songs ist geschickt arrangiert; mit 'Through The Shadows' (vom Album "One For Sorrow", 2011) gibt es gleichermaßen traurige wie auch heroische Töne: You alone have the power / You only hold the control. Über ältere und neuere Kracher wie 'Down With The Sun' (vom Album "Across The Dark", 2009) oder 'Ephemeral' (vom 2014er Album "Shadows Of The Dying Sun") bauen INSOMNIUM trotz der Kanalisierung über Internet-Video eine bestmögliche Live-Stimmung auf, die sich kurz vor Ende des Konzerts explosionsartig in 'While We Sleep' (ebenfalls 2014) entlädt.
Das abschließende 'Heart Like A Grave' liefert alsdann ein tiefsinniges, melancholisches Ende - die Stimmung von weiten Seenlandschaften und Wäldern, von Meereswellen und einer introspektiven Lebensrevue.
So war alles drin an diesem Abend: Live-Kracher, die einen auch daheim im Wohnzimmer kräftig mitgehen ließen (Rollläden wurden natürlich vorher heruntergelassen), heroische Klänge, die unglaublich aufgemuntert haben, und eben auch viel Nachdenkliches. Den abschließenden Worten "Thank you so much everyone! Let's do this again soon!" antworte ich ohne nachzudenken: "Ich danke euch, und ja klar bitte, unbedingt!" ... und hoffe, dass ich die Jungs bald wieder direkt und physisch auf der Bühne werde sehen kann, ohne dazwischengeschalteten Monitor. Bis dahin sind solche Online-Gigs auf jeden Fall wieder herzlich willkommen (und die zuständigen Techniker hoffentlich ob der Menge der Zuschauer vorgewarnt, zwinker). Ich hoffe sehr, dass so wenigstens ein Teil der verlorenen Einnahmen wieder eingespielt werden kann.
Danke an INSOMNIUM und OMNIUM GATHERUM für dieses wirklich sagenhafte Erlebnis in dieser schwierigen Zeit!