Michael Kiske - verlorener Sohn, Spinner, oder Prophet?

Ein Artikel von Opa Steve vom 03.01.2006 (14863 mal gelesen)
Michael Kiske, der Sänger, der damals bei HELLOWEEN Aufsehen erregte und die Keeper-Alben hoch in den Metal-Zenith sang, macht zur Zeit wieder von sich Reden. Das allerdings weniger durch Musik, sondern durch seine metalfeindlichen Äußerungen in den letzten Monaten, die bei dem einen oder anderen Headbanger sicher die großen Fragezeichen über die Rübe gezaubert haben. Es wird also Zeit, etwas mehr in die Tiefe zu gehen, als es momentan in den üblichen Gazetten mit einseitigen Interviews (die ausschließlich der Gegenanklage und der Metal-Verteidigung dienen) der Fall ist.

Ohne Gegenanklage geht es allerdings auch in meinem Special nicht. Allein aus der HELLOWEEN-Vergangenheit heraus kann man Kiskes Ablehnung gegenüber der "lauten und gewalttätigen Musik" nicht erklären. Glänzten doch gerade Hits wie 'Dr. Stein' durch fröhliche Melodien, und auch die sonstige HELLOWEEN-Lyrik war doch seichtes Comic- und Fantasygeschwurbel. Was also ist passiert? Kiske habe ich als Altmetaller schon immer sehr ambitioniert - und vor allem sehr überzeugt von sich selbst - in Erinnerung. Ich kann mich da an lange Ausführungen in Interviews erinnern, wie toll und akzentfrei doch sein Englisch wäre und dass man ihn glatt für einen Engländer halten könnte. Mag ja auch alles sein, aber der Nachdruck, mit dem er seine Person gern in die vordersten Ränge setzte, war mir schon etwas suspekt. Naja, er ist halt ein verdammt guter Sänger, hat zu Recht jede Menge Lob kassiert, und ein paar echte Klassiker eingesungen. Da kann das in jungen Jahren etwas zu Kopf steigen. Aber hätte ich gewusst, wie sich das mit Kiskes zunehmenden Alter entwickeln würde, hätte ich die Dinge anders gedeutet.

Die Erscheinung, die Kiske heute abliefert, ähnelt schon der diverser Sektenanhänger. Kiske fing an, sich für Philosophie und Anthroposophie zu interessieren und folgt heute mit flammender Begeisterung deren Begründer Robert Steiner. Robert Steiner, das muss man dabei erwähnen, ist alles andere als unumstritten. Stein des Anstoßes sind vor allem seine Rassenthesen, die denen des 3. Reichs nicht unähnlich sind. Auf haarsträubende Weise leitet er dunkle Haut und krauses Haar davon ab, dass bei Afrikanern Drüsen brodeln und hintere Hirnaktivitäten Überhand nehmen - diese sogar das Sonnenlicht aufsaugen. Und über die Warnung, dass weiße Schwangere durch Lektüre von "Negerbüchern" doch glatt Mischlinge gebären könnten, würde man schmunzeln - wenn es nicht so ernst wäre. Nicht einmal ein Asiate, der noch einen Hauch dunkler Farbe in sich trägt, hat laut Steiner eine Überlebenschance (Malayen sterben seiner Auffassung nach an der Sonne ab). Der weiße Mitteleuropäer allerdings ist die Speerspitze der Evolution. Steiner muss man zugute halten, dass diese Rassenlehren nur einen kleinen Teil seines Gesamtwerkes ausmachen und viele Skripte nicht von Steiner selbst verfasst, sondern aufgezeichnet wurden. Allerdings sollten sämtliche Alarmglocken schrillen, wenn ich mir von einem solchen Menschen den Sinn des Lebens erklären lassen will. Bei Kiske jedoch keine Spur von Kritik. Er ist so voll der blinden Begeisterung, dass er in seinen Aufsätzen auf seiner Homepage schon beinahe Worte der Goethe'schen Romantik für diesen Mann findet und in Interviews schon äußerte, er wäre gern mal ein Zeitgenosse Steiners gewesen. Im inbrünstigen Ton der Überzeugung verkündet er seine Wahrheit als die absolute und verdammt alles, was nicht seiner Lebensmaxime folgt. Dazu zählt natürlich der Metal als Musik, aber auch die Musikindustrie und generell alle materialistischen Menschen oder Agnostiker.

Diese Meinung sei Kiske natürlich ungenommen. Aber wenn er den Metallern vorwirft, sie wären über seine Meinung beleidigt wie kleine Kinder, dann sollte er sich erst einmal selbst an die Nase fassen. Die bemühte Authentizität durch Suggestion objektiver Beweisführung und verkomplizierte Aussagen mag den unbedarften Leser vielleicht beeindrucken, aber bei näherer Betrachtung entpuppt sich schon bald der sehr fahrige, beinahe schizophrene Stil in seinen Aufsätzen. Voller semantischer Schwächen neigt Kiske zum Abschweifen, verliert sich in Nebendetails und bläht seine Texte durch Zitate aus Bibel- und Anthroposophenquellen auf, die mächtig Eindruck schinden sollen. Bei seinem Aufsatz über Spießer bekommt man den Eindruck, als hätte die Gesellschaft keine Probleme mehr außer dem Heavy Metal. Er behauptet bar jeder Vernunft, der Metal wäre künstlerisch unfreier als Schlagermusik, und nur Klassik würde glücklich machen. Diese hört er allerdings nur - zum Schreiben von neuer Musik zieht Kiske dann doch eher Pop und AOR vor. Und was die Freiheit betrifft ("ein Musiker muss nur seinem Herzen folgen - nicht dem Markt") ist es auch nicht weit daher, denn warum bindet sich ein solch erleuchteter Mensch überhaupt noch an die Industrie, ist eingetragenes GEMA-Mitglied und pocht auf seine HELLOWEEN-Tantiemen, obwohl die Arbeit im Heavy Metal doch so arg schrecklich war? Er nimmt also das Blutgeld reinen Gewissens, kritisiert gleichzeitig die Quelle davon, und obwohl sein Ausflug in den Metal doch so kurz war, so detailliert glaubt er, diese Szene bewerten zu können. Eine Eigenschaft, die er Plattenkritikern offenbar nicht so gönnt wie sich selbst: "Mit einem wirklichen Recht kritisieren kann man nur etwas, wenn man das Kritisierte tatsächlich besser versteht oder leisten kann, als der Kritisierte".

Man kann also schon einmal festhalten, dass es Kiske an Bescheidenheit, Objektivität und einerlei Maß mangelt, und er sich persönlich über Tausende, gar Millionen individueller Menschen erhebt und schwarzweiß sein Weltbild zusammenzimmert. Aber was hat seine Generalabrechnung noch für Konsequenzen für unsere Szene, mal abgesehen davon, dass er sich wieder ins Gespräch bringt? Die größte Erkenntnis ist wohl, dass wir insgeheim genau wissen, dass wir manchmal ebenso schwarzweiß urteilen. Viele Metaller, die sich über Kiskes unrühmliches Verhalten empören, sind oftmals keinen Deut besser - nur mit anderem Vorzeichen. Wie oft stellen wir voller Begeisterung für unsere Musik den Metal als die Lebensweisheit hin, und dulden unkritisch - wohl aber wissentlich - den einen oder anderen Auswuchs? Wir haben Kiske gegenüber allerdings einen großen Vorteil: viele Klischees im Heavy Metal, auf die sich Kiskes Anklage bezieht, sind definitiv nicht ernst zu nehmen und werden auch nicht ernstgenommen. Wenn aber Kiske dem Metal die künstlerische Freiheit abspricht, dann meint er das todernst. Ein "das war doch alles nicht so gemeint" würde sein Gebilde komplett zusammenbrechenlassen und ihn lächerlich machen - das wird er sich nicht erlauben, sondern bei seiner Meinung bleiben. Genießen wir also unsere Immunität gegen Kritik. Wenn sich jemand also kaputtrechtfertigt, die Texte von ZIMMERS HOLE wären schwachsinnig und ROTTEN SOUND würden Krach machen, können wir lächelnd den Bemühungen mit einem Schulterzucken entgegentreten: "Ja und? Stimmt, und wir haben trotzdem Spaß.". Auch Anschuldigungen, dass Metal aus uns "denkschwache und lebensmüde Agnostiker" machen würde, können doch souverän an uns abprallen. Schließlich wird beim Betrachten der Szene auch dem letzten Statistiker klar, dass dies im Einzelfall zwar zutreffen mag, aber daraus keine Regel abzuleiten ist, und der Metal-Fan in Punkto Bildung und sozialer Kompetenz ein ebenso breites Spektrum abbildet wie der Rest der Bevölkerung. Warum also empört reagieren? Wenn jemand behauptet, Schnee wäre schwarz, dann wird ob dieser Sinnlosigkeit ja auch nicht diskutiert. Interessant werden Kiskes Anschuldigungen erst, wenn man sich in die extremen Abgründe der Metal-Szene herablässt. Da wo Hass und Zerstörung nicht als stilistisches Mittel zum Zweck eingesetzt, sondern ernst gemeint wird. Zugegeben: von diesen realen Hassbolzen existieren relativ gesehen nicht viele, und die meisten im Untergrund ohne Massenrelevanz. Dies also auf die gesamte Szene mit ihrem Showimage zu übertragen ist definitiv lächerlich und ungefähr so, als würde man Boris-Karloff-Filmen Gewaltverherrlichung und einer Geisterbahn Satanismus vorwerfen. Es gibt allerdings Grenzbereiche, wo es mit einer Entschuldigung "Das ist doch gar nicht so gemeint" nicht mehr so einfach herausreden lässt. Selbst die brutalste Musik bietet noch genug Möglichkeiten einer freien Themengestaltung, und wenn plump auf extremste Schock-, Gore-, Satanismus- und Hasselemente zurückgegriffen wird - selbst ohne diese wirklich ernst zu meinen - ist Zurückhaltung angesagt. Da müssen wir Metal-Fans auch lernen, uns ehrlicher davon abzugrenzen, um die Angriffsfläche, die Kiske nutzt, zu beseitigen. Es wäre so einfach zu sagen: "Ja, die Mucke ist total geil und gibt mir was. Die Texte sind aber scheiße.". Leider, und da muss ich Kiske Recht geben, mangelt es zu oft an dieser öffentlichen Differenzierung. Dabei würde es unserer Szene mehr Glaubwürdigkeit verleihen, wenn wir offensiver von unserem Urteilungsrecht Gebrauch machen würden, damit erst gar nicht der fatale Verdacht aufkommt, wir könnten das alles für bare Münze nehmen. Die Einteilung in "Gut" und "Böse" wird immer noch zu sehr von den Mainstream-Gazetten diktiert. Der Einfluss von einem RockHard z.B. ist nicht zu unterschätzen, wenn sie den Daumen heben (Marduk) oder senken (Dissection). Muss denn erst ein verurteilter Killer die Songs schreiben, bevor man irgendetwas am Gesamtwerk kritisieren darf?

Als alteingesessener Metaller weiß ich, dass die Szene nach wie vor nicht nach dem lebt, was sie auf und vor der Bühne singt und brüllt. Metal war schon immer ein Ventil und ein Sammelbecken für auch mal recht verrückte Sachen, die auch viel Freude bringen und in manch anstrengendem und ernsten Alltag erholend wirken. Vor allem ist es aber Kunst, und Kunst unterliegt einer großen Freiheit. Wir sollten aber darauf achten, dass wir die Kunst auch als solche weiterhin verstehen, und zu Kunst gehören auch Kunstkritik und Kritikfähigkeit. Es ist natürlich weiterhin erlaubt, was gefällt. Wer sich also bei stumpfem Grindcore besser fühlt als bei jazzigen 5/8-Breaks: sei's drum. Wer lieber MACABREs Massenmördertexte liest als Sozialkritik oder Prosa: ich werde ihn durch diesen Text nicht davon abhalten können. Aber wenn wir wirklich ehrlicher sein wollen als ein Michael Kiske, dann müssen wir aufhören, den Metal in seiner Totalität schönzureden und die Argumente zu akzeptieren, die zutreffen - auch wenn der Angriff als Ganzes noch so ungerechtfertigt ist. Vor allem aber wünsche ich mir eine gesunde, selbständige Distanzierung von allen extremen Auswüchsen und - da stimme ich mit Kiske überein - einen Rückgang des in letzter Zeit hip gewordenen Wettbewerb in "Evilness". Ein "File Under Metal" auf der CD reicht noch längst nicht aus, einem Werk die Absolution zu erteilen. Genausowenig verleiht einem eine anthroposophische Bibliothek die Krone der Erkenntnis. Die Wahrheit liegt - wie so oft - irgendwo dazwischen.

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