Sepultura - Quadra | |
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Review von Damage Case vom 04.02.2020 (13458 mal gelesen) | |
'Deutschland im Herbst' so lautet ein Song der BÖHSEN ONKELZ, veröffentlicht auf dem Album "Weiß" im Jahr 1993. Was zum Geier hat das mit SEPULTURA zu tun? Exakt in jenem Herbst 1993 waren zwei der damals vielversprechendsten und aufstrebendesten Metal-Bands der Welt, namentlich SEPULTURA und PARADISE LOST, auf gemeinsamer Europa-Tour, die zwischen dem 30. Oktober und dem 10. November auch in Deutschland haltmachte. Die Fans, die Presse, ja selbst die handelnden Musiker waren sich anschließend sicher, dass hier zwei der zukünftigen Anführer des Stahls der 1990er und folgenden Jahrzehnte aufspielten. Sie hatten alles, was damalige Dinosaurier wie zum Beispiel die zu dieser Zeit sängerlosen IRON MAIDEN und JUDAS PRIEST nicht hatten: Sie waren modern, sie hatten den Sound der Stunde und sie hatten ihre Zukunft vor sich (wer hätte denn damals geahnt, dass die Hohepriester mit Rob Halford die fünfzig Bandjahre vollenden und die Jungfrauen 2020 live mit "Bruce Bruce" mehr denn je begeistern?). Gerade SEPULTURA galten mit ihrer 1993er Großtat "Chaos A.D.", dem Nachfolger der grandiosen "Beneath The Remains" (1989) und "Arise" (1991), als die einzig wahren und legitimen Nachfolger auf den Thrash-Thron, den bis dahin seit 1983 ununterbrochen SLAYER felsenfest innehatten. Aber durch den Abgang von Dave Lombardo wusste die Szene nicht, ob die Band nochmals in Weltklasseform zurückkehren würde (Spoileralarm: taten sie, mehrfach). Nun, die Geschichte lehrt uns, dass PARADISE LOST, denen als Anführer des doomigen Depri-Goth-Metals alle Türen offen standen, 1999 mit "Host" diese Vorherrschaft kampflos abgaben und seitdem ihrem eigenen Geist von 1990 bis 1995 in schwankender Qualität hinterher musizieren. SEPULTURA andererseits brachen mit dem gleichsam umstrittenen wie bahnbrechenden "Roots" mit allen Genrekonventionen zwischen finnischem Hardcore, Indianermusik, Thrash und bloßem Krach und verloren auf der kommenden Tour ihren Sänger und Aushängeschild Max Cavalera. Seit dem "Roots"-Nachfolger "Against" (1998) steht sein Nachfolger Derrick Green am Mikro. 2020. Neun Alben später. Derrick Green leidet bei den Altfans immer noch unter dem von AC/DC bekannten Brian-Johnson-Problem, für ewig "der Neue" zu bleiben, und das obwohl Max Cavalera mittlerweile auf der Bühne ein Schatten seiner selbst ist und es daher bitte niemals zu einer Reunion kommen möge - man schaue sich als Beleg hierfür ein nettes Youtube-Video an, in welchem Live-Versionen des Klassikers 'Refuse/Resist' von 1993 bis heute zusammengeschnitten wurden. Derrick hingegen strotzt auf Konserve und Bühne vor Kraft. Dass der Hüne beinahe fünfzig Jahre alt sein soll, mag man beim Anblick seines durchtrainierten Körpers nicht glauben. War seine von Hardcore-Schreien geprägte Performance früher noch der größte Schwachpunkt, ja beinahe ein Fremdkörper bei SEPULTURA, hat er sich spätestens seit dem furiosen "Kairos" (2011) tatsächlich in den Bandsound eingefunden und seit dem bockstarken Vorgänger "Machine Messiah" (2017) muss auch der letzte Ewiggestrige eingestehen, dass man fast fünfundzwanzig Jahre nach dem Sängerwechsel "den Neuen" gut finden darf, nein muss. "Quadra" startet auch direkt mit dem bereits zuvor als Single bekannten 'Isolation'. Die Tür wird eingetreten, SEPPLULTRA sind im Haus! Der Opener ist Teil eines Albumkonzepts das Album in vier Teile à drei Songs aufzuteilen - quasi die vier Seiten einer Doppel-LP. "Seite eins" bietet zum Einstieg puren Thrash Metal, auf der zweiten "Seite" geht es rhythmisch zurück in die "Roots"-Ära, "Seite drei" bietet Raum für Experimente und auf der letzten "Seite" kommen Melodien zum Zuge. Soweit zum etwas konstruiert klingenden Konzept, das sich um die Zahl vier und die vier Seiten eines Spielfelds (das portugiesische Wort hierfür ist 'Quadra') dreht. Auch die Band besteht aus vier Musikern. Vier gewinnt, quasi. Gemeinsam mit Jens Bogren, der auch den Vorgänger produziert hat, gelang es der Band, im Fascination Street Studio ein frisch, hungrig und wuchtig aus den Boxen schallendes Album einzutrümmern, das wie ein drittes oder viertes klingt, aber nicht wie ein fünfzehntes. So viel Mut und Lust auf Experimente haben wenige alteingesessene Thrash Metal-Acts nach knapp fünfunddreißig Jahren bisher bewiesen. Korrigiere: Keiner. In gefühlt jedem zweiten Song gibt es Chöre, die das jeweilige Stück aber stets stärker statt softer machen. Die Band strahlt auch in experimentelleren Songs stets aus, dass sie nach vorne thrashen wollen, und wie: Alleine die Songeinstiege von "Last Time", "Ali", "Raging Void" und "Autem" setzen Maßstäbe. Hier haben sich Komponisten etwas bei jeder Note gedacht - und sei es nur der tolle VOIVOD-Tribut in "Autem" nach dem furiosen Intro ab Minute 00:30. Weiteres Beispiel ist das vertrackte, aber dennoch headbangtaugliche Instrumental 'The Pentragram'. Auch das Experiment, das Album mit 'Fear, Pain, Chaos, Suffering', unterstützt durch die melodisch singende Emily Barreto (FAR FROM ALASKA), zu beenden, weiß zu gefallen. Und wir sprechen hier eher von einem harten Rock- denn Metal-Song. Wirkten die Brasilianer um Bandboss und mittlerweile Spitzensolist Andreas Kisser auf früheren Alben zwischen "Against" und "Kairos" häufig zerrissen und bildeten auf Albumlänge keinen einheitlichen Fluss ob all der Brüche in und zwischen den Songs, so gelingt es ihnen seit einigen Alben, den Spagat zwischen spannenden Experimenten und nachvollziehbaren Strukturen vom ersten bis zum letzten Song auf Festplatte zu bannen. Auch die Anwesenheit eines echten Weltklassedrummers wie Eloy Casagrande, seit "The Mediator Between Head And Hands Must Be The Heart" (2013) an Bord, verstärkt diesen Eindruck. Als Beispiel dient 'Guardians Of Earth', eröffnet von einer süßen Akustikgitarre in welche dann ein Chor förmlich einfließt bis Derrick einsteigt - aber eigentlich ist hier Eloy der Chef im Ring, denn sein Schlagzeugspiel ist so variabel wie fesselnd. Fazit: Der Thrash-Thron ist nach SLAYERs entgültigem Abgang heuer tatsächlich vakant. SEPULTURA empfehlen sich mit "Quadra" und dem darauf enthaltenen, durch die Bank beeindruckenden, Songmateral ohne Füller als einer der ersten Nachfolgekandidaten - und das komplett ohne Cavalera-Beteiligung. Wer hätte das vor zehn, fünfzehn Jahren noch zu hoffen gewagt? Drei Anspieltipps: Wie Derrick den melodischen Stampfer 'Agony Of Defeat' singt, schreit und durchlebt - unglaublich. 'Ali' der pumpende, listige, lauernde, tänzelnde, von Breaks durchsetzte und über volle Rundendistanz auf den Hörer einhämmernde Tribut an den größten Boxer aller Zeiten. 'Last Time' mit seinem Tapping-Intro, bevor dieser Brecher richtig Fahrt aufnimmt und zum Ende, von einem Frauenchor begleitet und einem Sahnesolo von Andreas Kisser geführt, wieder melodischer wird. Es gilt: Just killers, no fillers. Gesamtwertung: 9.5 Punkte | |
Trackliste | Album-Info |
01. Isolation 02. Means To An End 03. Last Time 04. Capital Enslavement 05. Ali 06. Raging Void 07. Guardians Of Earth 08. The Pentagram 09. Autem 10. Quadra 11. Agony Of Defeat 12. Fear, Pain, Chaos, Suffering | Band Website: www.sepultura.com.br Medium: CD, LP Spieldauer: 51:15 Minuten VÖ: 07.02.2020 |
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