Wo ist der Song?

Ein Artikel von Opa Steve vom 28.11.2010 (14808 mal gelesen)
Zu den spannenden Aufgaben eines Rezensenten gehört das ständige "Sichten" neuer Outputs, die gerade in den letzten Jahren in kaum gekannter Menge auf den Markt drängen. Nicht zuletzt, weil eine Teilnahme am Musikmarkt durch digitale Technik und Kommunikation immer preiswerter und einfacher geworden ist. Aber wie bekannt ist auch immer Schatten da, wo Licht ist. Und mir fällt in den letzten Monaten eine Entwicklung auf, die sich ihren Weg von unreifen Newcomern hin zu professionell promoteten Künstlern bahnt: der Song stirbt schleichend aus.

Äh, halt! Was schreibt der Opa Steve da? Nun, was hört er denn dann, wenn es doch regelmäßig so viel Neues gibt?

Nun, ich höre CDs, die sich laut Backcover formell in mehrere Titel aufteilen. Und hier überkommt mich in letzter Zeit schleichend das Gefühl, dass diese Aufteilung eigentlich zunehmend willkürlich ist und sich lediglich auf technische oder organisatorische Einheiten beschränkt. Will meinen: die Titel unterscheiden sich sicherlich in Form der verwendeten Riffs und Texte, aber ansonsten trifft man zunehmend auf eine gleichförmige Aneinanderreihung von hochqualitativen Beliebigkeiten. Dass Songs einen eigenen Charakter entwickeln würden wird zunehmend exotisch. Das Album rauscht zunehmend einfach durch. Wenn man Glück hat, steht man halbwegs auf den verwendeten Stil, so dass man sich "nur" fragt, warum einen eine neue Scheibe nicht über 40 Minuten fesseln kann, obwohl man den Sound doch eigentlich cool findet. Früher war nicht alles besser, aber doch zumindest vieles anders. Vielleicht fällt diese Entwicklung auch nur denjenigen auf, die wie ich bereits über Jahrzehnte ihrer Musikrichtung treu bleiben. Ein leichter Vorwurf könnte jetzt natürlich sein, dass ich alter Sack einfach schon zu viel gehört habe, um mich an einer NWOBHM-Kapelle anno 2010 zu erfreuen. Aber diesem Vorwurf muss ich direkt den Wind aus den Segeln nehmen, denn schließlich gibt es ja noch heute Bands, die sogar noch den Seventies-Stil überzeugend und innovativ rüberbringen (z.B. WOLFMOTHER). Von altersbedingter Langeweile kann also keine Rede sein - wer Musik liebt, wird immer heiß auf neue Kapellen sein, die es draufhaben.

Nichtsdestotrotz will ich mich mal auf eine kleine Zeitreise begeben. Eine Generation zuvor waren Bands stets bemüht, jeden Song mit Liebe zum Detail zum Gesamtkunstwerk zu machen. Perfekt darin waren z.B. die frühen IRON MAIDEN Scheiben. Egal ob '22 Acacia Avenue', 'Phantom Of The Opera', 'The Trooper' oder 'Alexander The Great' (die Liste wäre beinahe die komplette Playlist sämtlicher frühen Alben bis zur "Seventh Son" und ließe sich lange fortsetzen): jedes Stück hatte seinen Charakter, idealerweise sogar noch in Verbindung zum Text. So wurde in jedem Titel eine andere Atmosphäre aufgebaut, und jeder Song war eine Welt, in die man eintauchen konnte. Das verstehe ich unter "SONGwriting". Seele, Tiefe, Atmosphäre, Wiedererkennungswert. Natürlich gehört dazu ein Stück Variabilität und die Kunst, als Band einen typischen Stil zu entwickeln, und dennoch Grenzen weit genug zu stecken. Aber es hat schließlich auch nicht jeder das Recht, sich "guter Songwriter" nennen zu dürfen - auch wenn es viele von sich glauben. Und für einen guten Song reicht es eben nicht, wie heute so beliebt einfach ausgelutschte Stilmerkmale eines beliebigen Genre-Setzbaukasten zusammenzufügen und perfekt runterzuzimmern. Gut spielen und gute Riffs können heute viele Bands liefern, aber das allein macht den Song zwar oberflächlich tadellos, aber nicht gleich zu einem guten Song. Das gleiche Riff kann eingebettet in das entsprechende Songgewand Gänsehaut erzeugen, oder auch als Bestandteil liebloser Aneinanderreihung einfach nur tödlich langweilen. Das ist eine Tatsache, die viele junge Bands nicht raffen wollen. "Hey, ich hab hier vier Weltklasse-Thrash-Takte, lass uns danach unbedingt noch deine Twin-Leads einbauen und unser Sänger shoutet dann im Break wie Mille!". Nach diesem "Konzept" entstehen leider Alben am Fließband. Wer so denkt und sich so zielorientiert an Zwängen ausrichtet, vergisst sein eigenes Ich, sein Bauchgefühl, und heraus kommt anonymer Einheitsbrei.

Ist dies vielleicht ein Problem der immer extremeren Bands, dass ihr Stil am Härteanschlag eben zu wenig Luft für individuelles Songwriting lässt? Mit Sicherheit nicht, denn auch dafür gibt es genügend Gegenbeispiele. Die von mir verehrten VOIVOD hatten vom Debüt bis zur "Phobos"-Scheibe über Dekaden sehr extreme Songs drauf, die allesamt vor Lebendigkeit und eigenem Charakter nur so strotzen, obwohl der Gesamtstil immer unverkennbar war. BATHORY legten mit "Under The Sign Of The Black Mark" schon in den 80ern einen Meilenstein an Härte, kalter Bösartigkeit und Geschwindigkeit vor, als die Welt noch nicht einmal ahnte, dass es mal so was wie 'Norwegian Black Metal' geben würde - und steckt mit diesem Output selbst heute noch 99% der aktuellen Szene in Punkto Originalität in den Schatten. Altmeister wie CELTIC FROST legten nach vielen Jahre mit "Monotheist" einen neuen Meilenstein vor, ohne sich zu verkaufen, und junge Bands wie ARKHON INFAUSTUS oder KEEP OF KALESSIN beweisen jeweils auf ihre Weise, dass extreme Musik genügend Spielraum für Songs bietet, die jeweils einen inneren Kern haben und das Interesse des Hörers wecken.

Es gibt also keinen wirklichen Grund für die grassierende mechanische Einfaltslosigkeit, die immer alltäglicher wird. Außer vielleicht, dass zu viele Leute Musik schreiben möchten, die es lediglich formell draufhaben, aber eben nicht seelisch. Dies führt zu einem schleichenden Gewöhnungsprozess, dass man immer mehr dazu tendiert, ein Album schon gut zu finden, wenn es nur geil produziert ist und im jeweils akuten Moment des Hinhörens ein cooles Riff rausschleudert. Offenbar leiden nicht nur Musiker, Fans und wir "professionellen Hörer" unter diesem Gewöhnungseffekt, sondern auch die A&R-Leute bei den Labels. Schließlich haben es gesichtslose Bands vom Underground längst in die kommerzielle Promotion mit Touren und Plattenverträgen sowie Hochglanzproduktionen geschafft. Und nicht selten werden diese Outputs auch unkritisch abgefeiert - sofern man sich von paar präzise gezockten Takten und einer Killerproduktion oberflächlich davon ablenken lassen will, dass die Songs selbst einen überhaupt nicht mehr tief innen erreichen. Dieses Phänomen bezeugt eigentlich nur, wie sehr sich die Schwerpunkte und Ansprüche in technokratische Attribute verlagert haben. Natürlich waren die damaligen dünnen LP-Masterings keine Glanzleistung und auch nicht authentisch (jede Band klang live fetter), und es ist auch albern, diese technische Askese heute mit der Begründung "true" oder "oldschool" zu fördern. Aber gerade guter Sound ist heute so einfach wie nie (oft ist er schon unnatürlich gut, dass er schon wieder schlecht ist), und spielerisch sind die Selbstansprüche der Musiker ohnehin viel höher als vor 30 Jahren. Was zum Teufel reitet uns also, ausgerechnet diese beiden Aspekte in den Vordergrund zu rücken?

Fazit: die Schonzeit muss ein Ende haben. Von Musik erwarte ich mehr, als ein paar formelle Aspekte als nette Verpackung. Und das wird sich in kommenden Reviews meinerseits auch definitiv niederschlagen. Also, ihr Bands da draußen: ich erwarte von euch, dass es wieder ganz tief in meinem Bauch kribbelt und eine Gänsehaut den Rücken raufläuft, und Dopamin und Serotonin in die Blutbahn jagen!

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Dem kann ich weitestgehend zustimmen. Aber was den spielerischen Selbstanspruch der Musiker angeht, möchte ich widersprechen. Es ist eher so, dass bei vielen (Nachwuchs-) Musikern keine Bereitschaft mehr da ist, Stücke erst aufzunehmen, wenn sie spielerisch in angemessener Form umgesetzt werden können, denn man kann ja später alles per Copy and Paste am Rechner zusammenbasteln bzw. Fehler ausbessern.
(13.06.2015 von André)

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