Interview mit Roger von Agnostic Front

Ein Interview von Eddieson vom 27.10.2015 (8151 mal gelesen)
Am Nachmittag vor der Show im Bielefelder Forum trafen wir uns mit AGNOSTIC-FRONT-Fronter und Szene-Legende Roger Miret. Der etwas angeschlagene Sänger wirkte anfangs etwas unterkühlt, taute aber immer mehr auf, und so sprachen wir über die Hardcore-Szene damals und heute, Politik und die kommende Biografie, bzw. Dokumentation. (AF-Foto by W. Craig)

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Hi, Roger! Danke, dass du dir eben kurz Zeit nimmst. Wie geht es dir?

Roger: Ich bin okay. Etwas müde, wie das eben so ist auf Tour. Außerdem war ich krank, aber jetzt geht es mir etwas besser.

Haste 'ne Erkältung?

Roger: Yeah, aber, wie ich eben schon sagte, es wird besser und das ist gut so.

Wie läuft die Tour bisher?

Roger: Sehr gut. Starke Shows. Die Leute haben Spaß und machen Singalong. Darum geht es ja schließlich auch.

Euer neues Album heißt "The American Dream Died". Erklär uns Europäern doch mal was der amerikanische Traum ist, und warum er nun zu Grabe getragen wurde.

Roger: Das ist nur ein Statement, das ich für mich gemacht habe. Wenn du mal an das materielle Amerika denkst, in dem es um Autos und Häuser und so geht, dann ist alles normal. Ich rede aber über die Gesamtheit. Stück für Stück bricht es auseinander. Stück für Stück werden einem die Rechte genommen. Ich kam als Flüchtling nach Amerika, auf der Suche nach Gerechtigkeit und Freiheit. Und diese Dinge werden mir Stück für Stück genommen. Darum geht es auf dem Album, darum wie es heute in Amerika abgeht.

Du bist ursprünglich aus Kuba, richtig?

Roger: Jep.

Ihr habt eine weitere Hymne New York gewidmet. 'Old New York' heißt er. Wie hat sich New York verändert und was vermisst du am meisten an der Stadt?

Roger: Am meisten vermisse ich ihren Charakter. Aus dem alten New York kam großartige Musik, großartige Kunst und Bücher. Es gab dort so viel Kultur, das Leben pulsierte. Dem neuen New York fehlen viele Elemente. Das alte New York war gefährlich. Drogen, Kriminalität und Prostitution. Natürlich gab es das. Aber das gehörte einfach zu der Stadt. Ich mochte den alten Charakter. Ich mag das neue "Disneyland-New-York" nicht.

Ist das der Grund, warum du aus New York weggezogen bist?

Roger: Absolut. New York ist nur noch touristisch. Für die Touristen ist es sicher. Es kann sich aber niemand mehr leisten dort zu wohnen, deshalb ziehen viele Familien von dort weg, raus in die Vororte. Das ist es, was sie mit New York gemacht haben. Sie haben die Kultur zerstört. imgleft

Das kann man auch gut auf andere Großstädte beziehen.

Roger: Natürlich. Mit Berlin, London, Amsterdam, usw. passiert dasselbe. Man muss in die Vororte ziehen, um sich eine Wohnung leisten zu können.

'Old Wise Man' ist ein weiterer Song auf eurem neuen Album über eine Freund von dir, der gestorben ist. Über wen handelt der Song? Ich habe auf Raybeez getippt. [Sänger von WARZONE, der 1997 gestorben ist].

Roger: Nein, der ist es nicht. Der Song ist über einen Freund von mir. Er war ein wirklich alter Mann, der 93/94 gestorben ist. Er hat den 2. Weltkrieg überlebt und war beim D-Day dabei. Er war ein toller Kerl. Er hat uns den Weg gezeigt, als wir damals aufgewachsen sind, in den Straßen New Yorks. Unser Leben war wild und chaotisch und er hat uns durch das Erwachsenwerden geführt. Ein alter Mafiosi.

Ihr seid seit über 30 Jahren dabei und seid Mitbegründer der New-York-Hardcore-Scene. Wie erhaltet ihr diese Leidenschaft?

Roger: Ach, die Leidenschaft muss ich nicht erhalten. Das ist etwas, das ich liebe und einfach aus Leidenschaft für die Szene mache. Viel schwerer ist die Integrität zu bewahren, weil ich weggezogen bin, ich habe mich verändert, ich lebe nicht mehr das wilde Leben von damals. Das ist manchmal schwer zu behalten. Ich lebe nicht mehr im Siedepunkt. Aber ich habe noch meine Meinung, und ich begebe mich oft in die Vergangenheit. Außerdem schaue ich mir die weltweiten Nachrichten an und habe immer noch diese Angst. Aber die Leidenschaft zum New-York-Hardcore ist immer da.

Nervt dich die Szene auch manchmal?

Roger: Die Szene? Ja, natürlich tut sie das. Manchmal macht sie dich einfach sauer. Auch wenn du verheiratet bist, nervt dich deine Frau doch auch mal, auch deine Kinder gehen dir doch mal auf die Nerven. Ich sehe viel, was ich nicht mag. Am meisten sehe ich eine Unterteilung in der Szene. Gar nicht mal so viel bei AGNOSTIC FRONT, da kommen Leute zusammen, die zusammen sein wollen. Aber es gibt halt Leute in der Szene, die sich oder andere abgrenzen und das innerhalb der Szene. Das ist verrückt.

Hat sich also die Szene seit den Achtzigern gehörig verändert.

Roger: Absolut! In den Achtzigern war es eine kleine Gruppe von Freunden. Wir lebten eine enge Gemeinschaft in einer gefährlichen Gegend, aber wir haben uns gegenseitig beschützt, es war irgendwie wie damals im Wilden Westen. Die Szene ist heute anders. Sie ist größer geworden, und wenn etwas größer wird, dann wird auch die Qualität schlechter. Aber es gibt immer noch gute Leute da draußen und auf die lege ich meinen Fokus. Hardcore gibt es mittlerweile weltweit. Das hätte ich mir nie vorstellen können. Wenn du mir '83 erzählt hättest, dass wir in Deutschland spielen, hätte ich dir ins Gesicht gelacht. Für mich gab es nur New York City. Ich lebte damals in meiner eigenen kleinen Welt. Heute ist das anders. Es ist gut so, aber es ist anders als damals.

"Unity" war ja immer ein Wort in der Szene. Ist es heute also schon ziemlich abgenutzt?

Roger: Das stimmt, das war ein großes Wort. Aber auf meinen Shows fühle ich das noch. Aber mittlerweile gibt es schon mehr Trennung als "Unity". Das merkt man. Es gibt wesentlich mehr Unterteilungen. Ein Vegan-Kid ist nicht wie ein Vegetarier-Kid und solch seltsame Dinge. Eine Szene sollte doch sein, in der es um Individualität geht und jeder sein Leben lebt, wie er möchte. Aber es ist anderes geworden. Jeder denkt nur noch an sich, und jeder hat seine eigene Meinung und die Meinung der anderen ist immer die Richtige. Du verstehst?

Ja! AGNOSTIC FRONT ist mittlerweile weltweit etabliert und die Fans haben gewisse Erwartungen an die Band. Es bleibt also wenig Raum für Experimente. Ist AF also ein Segen oder ein Fluch für dich?

Roger: [lacht] Es ist schon manchmal schwer. Es ist, wie du sagst, die Leute haben ihre Erwartungen. Die Leute kritisieren immer sehr schnell. Aber als Erstes schreiben wir die Musik für uns. Wir schreiben Musik, die wir lieben. Und wenn wir uns gut damit fühlen, dann hoffen wir, dass auch die Leute es mögen. So war das schon immer. Aber natürlich stehen wir unter gewissen Erwartungen. Das ist eigentlich nicht das, was ich unbedingt mag. Ich bin ein sehr introvertierter Mensch. Ich mag meine Privatsphäre. Aber ich verstehe das. Ich bin nun mal ein Hauptteil dieser Band. Aber, wie gesagt, die Leute kritisieren schnell, obwohl sie nie mein Leben gelebt haben, sie sind nie den Weg gegangen, den ich gegangen bin. Sie kennen meine Erfahrungen nicht.

Bist du immer noch wütend?

Roger: Ja, man! Natürlich bin ich noch wütend! Schau dir doch mal diesen ganzen Mist an, der weltweit passiert. Das ist doch der Horror, das ist traurig. Die Welt ist ein trauriger Ort. imgright

Ich erinnere mich immer gerne an Mike von JUDGE zurück, der auf eine Reunion angesprochen wurde und sagte "No, I'm not angry anymore".

Roger: Ja, es gab eine Zeit, in der JUDGE nichts gemacht haben und völlig verschwunden waren. Aber jetzt sind sie wieder aktiv. AGNOSTOC FRONT ist eine der wenigen Bands in der New-York-Hardcore-Szene, die kontinuierlich da waren und da sind. Ich meine jetzt nicht, dass wir nur mal eben eine Show spielen. Jeder kann eine Show spielen, jeder kann eine Platte spielen, die 20 Jahre alt und die Leute werden es lieben. Aber wir sind ständig auf Tour, schreiben ständig neue Songs, eben weil wir es lieben. Konzerte sind unsere große Leidenschaft, weil wir involviert sind. AGNOSTIC FRONT, MADBALL, SICK OF IT ALL sind alles involvierte Bands. H2O bringen bald eine neue Platte raus. Aber es gibt eben auch Bands, die haben diese Angst nicht mehr oder sind nicht mehr wütend genug. Aber wenn du an dich glaubst und an die Bewegung glaubst, dann mach es. Hab keine Angst davor, zeig den Leuten wer du bist.

Du schreibst ja nebenbei gerade deine Biografie. Gibt es schon einen Plan, wann die veröffentlicht werden soll?

Roger: Im Oktober. Ich schreibe sie zusammen mit Jon Wiederhorn. Ich weiß noch nicht, ob es eine Autobiografie oder Biografie wird.

Nebenbei wird ja auch noch eine Dokumentation über dich und Vinnie gedreht. Wie persönlich wird die?

Roger: Sehr persönlich, für einen so privaten Mensch, wie ich einer bin, sehr persönlich. Jemanden zu erlauben, 5 Tage bei mir zu leben. Bei meiner Frau und meinen Kindern, mich von morgens bis abends zu begleiten, um zu sehen, wie ich bin und wie wir zusammen als AGNOSTIC FRONT sind. Ich halte mein privates Leben sehr zurück, als das Leben als Musiker. Das sind 2 verschiedene Leben. Ich liebe es Elternteil zu sein, ich liebe es Vater zu sein, aber alles, was ich in diesem Musikerleben tue ist nicht für Kinder. Ich trenne also diese beiden Leben.

Wie sieht dann ein normaler Tag im Leben des Roger Miret aus, wenn ihr nicht auf Tour seid?

Roger: Im normalen Leben bin ich Elektriker und arbeite als Elektriker. Ich arbeite an meinem Auto, mach was mit der Familie, bringe meine Kinder hier und da hin. Wir essen zusammen. Ich helfe bei den Hausaufgaben. Meine Kinder lernen Spanisch und Englisch, da gibt es eine Menge zu tun. Jedes Wochenende ist eine Geburtstagsfeier oder irgendwelche Auto-Shows, ich gehe auf Konzerte, wenn eine Band spielt, die ich gerne sehen will. Vinnie lebt da z. B. ein komplett anderes Leben. Mein Leben ist sehr privat. Vinnies Leben ist dagegen [überlegt] was auch immer! [lacht]

Hat das Leben, welches du heute lebst, Einfluss auf die Musik?

Roger: Nein, eigentlich nicht. Als vor einigen Jahren meine Tochter geboren wurde, hat mich das verändert. Es hat mich in meinem Denken verändert. Darüber schreibe ich auch in meinem Buch. Es war definitiv eine Veränderung in meinem Leben. Eine wahre Geschichte: Ich habe damals in den Achtzigern einen Mülleimer durch die Fensterscheibe von McDonalds geworfen. Ich hasse McDonalds. Das habe ich '82 oder '83 gemacht. Kein Problem! Würde ich es heute noch mal tun? Ich glaube nicht. Überall gibt es Kameras, man kann eigentlich nicht unerkannt davonkommen. Heute würde ich vielleicht nachts mit einem Zahnstocher etwas Leim ins Schlüsselloch schmieren, um so das System zu terrorisieren. Es ist halt anders heute. "Live fast, die young" war mein Motto damals. Heute möchte ich noch meine Enkelkinder erleben. So ändert sich das halt. Aber die Welt zu bereisen um so auch viele Probleme aus anderen Ländern kennenzulernen lässt mich weiterhin wütend sein.

Glaubst du immer noch, dass du die Welt verändern kannst.

Roger: Ich habe definitiv nie daran gedacht die Welt verändern zu können. Ich glaube, dass ich etwas bewirken kann. Wir können diese Scheißpolitiker oder Scheißleute nicht verändern. Das ist unmöglich. Ich denke aber, dass wir was bewirken können. Unsere Musik hat weltweit schon was bewirkt. Z. B. der Vegetarismus oder der Veganismus ist riesig geworden. Das ist aus etwas entstanden, was sehr klein war. Aber jeder hat drüber gesprochen, hat darauf aufmerksam gemacht und so hat jeder etwas bewirkt. Verändern können wir die Welt nicht mehr.

Bist du Vegetarier?

Roger: Nein, nicht mehr. Ich war es für eine lange Zeit. Aber jetzt esse ich Fisch.

Wenn wir schon gerade über Politik sprechen. Was hältst du von den Präsidentschaftskandidaten für die nächste Wahl in den USA?

Roger: Das ist wirklich lächerlich. Das sind die Art von News, die ich nicht sehen will. Das ist wirklich albern. Ich habe die Hoffnung verloren. Ich habe zweimal für Obama gestimmt. Ich habe wirklich gedacht, er könne was ändern aber das war wohl nichts. Und die Aussichten werden nicht besser.

Wirst du wählen gehen?

Roger: Ich weiß nicht wen und ich glaube, meine Stimme macht nichts aus. Das ist alles ein großer Fake! Ich durfte bisher nicht wählen. 2006 bin ich erst amerikanischer Staatsbürger geworden und durfte wählen. Ich war aufgeregt, weil ich das erste Mal wählen durfte, und wählte zweimal Obama. Aber es hat nichts verändert. Niemand kennt mehr die Wahrheit. Kein Mensch weiß mehr was wirklich passiert. Niemand weiß, was wirklich abgeht mit Russland, dem IS usw. Das ist doch der Horror.

Das ist hier in Deutschland nicht anders.

Roger: Ja, natürlich! Man will ja an etwas glauben. Man will ja glauben, dass da jemand kommt und alles verändern wird. Aber das wird nicht passieren. Es gibt viel zu viel Hass, und ich denke, dass Religion da eine großen Teil zu dem Hass beiträgt. Jeder betet zu derselben Person, gibt ihm nur einen anderen Namen. Die Religionen sind untereinander verfeindet. Das ist doch verrückt. "Imagine There's No Heaven" wie es John Lennon schon sagte. Sehr gut!

Roger, vielen Dank für das Interview. Die letzten Worte gehören dir, eine message to the youth oder was auch immer du loswerden willst.

Roger: Ich möchte mich natürlich bei allen Fans bedanken. Bei allen, die uns unterstützt haben, den Hardcore weltweit unterstützen. Kommt zu unseren Shows, habt Spaß. Hört was wir zu sagen haben. Ich hoffe wir stoßen nicht auf taube Ohren, denn wir wollen etwas bewirken. Danke!

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