The Hirsch Effekt - Eskapist | |
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Review von Metal Guru vom 19.08.2017 (6815 mal gelesen) | |
THE HIRSCH EFFEKT kannte ich bis vor kurzem absolut überhaupt nicht, weder als hannoveranische Kapelle noch als medizinischen Terminus. Dann wurden sie mir als altem Progressivmetaller im Laufe anderer metallischprogressiver Neuerscheinungen an Herz, Nieren und Ohren gelegt, ich orderte gutgläubig/todesmutig/waghalsig ihre ersten drei Alben „Holon/Agnosis“, „Holon/Anamnesis“, „Holon/Hiberno“ und schwupp - hatten mich des Hirsches Hörner bei den Ei..., sorry: Herz, Nieren und Ohren! Das Programm bestehend aus 12 Songs oder genauer einer Stunde, einer Minute und elf Sekunden bewirkt den sogenannten HIRSCH EFFEKT - sofern man es denn schafft, sich die Scheibe ohne Unterbrechung rein zu tun. Das mag für den einen Hörer oder die andere Hörerin je nach Hörgewohnheit/Interessenlage/Vorgeschichte möglich bis ausgeschlossen sein, aber als Grundvoraussetzung zur Erzielung besagten Effekts muss man da wohl durch. Das Trio Infernale erschlägt uns geradezu mit derbster Dynamik, klaustrophobischten Klängen, krummsten und schiefsten Taktarten, unvorherhörbarsten Unisonolinien, vergleichsweise viel Verzerrung (für hirschige Verhältnisse) und widersprüchlichsten Wendungen innerhalb der noch nicht mal ein bis über vierzehn Minuten langen Stücke: amorphatonal/megamelodisch, butterweich/hammerhart, maxilaut/minileise, supratief/ultrahoch. Besonders hervor heben sich Track sieben als akustisch reines Stringthing, Track zwölf mit hochfrequentem Engelsgesang und schließlich die irritierende Tatsache, dass sich auf der gesamten gitarrendominierten Scheibe bis auf Track zwei kein einziges solches Solo befindet (von Bass- oder Schlagzeugsoli haben wir wie immer nur geträumt...). Dass dabei nach wie vor auf Deutsch gebellt/gebrüllt/gegrunzt/geschrien/gesungen wird, fällt anfänglich gar nicht auf. Erst die irgendwie ungewöhnlich klingenden Reime oder deren Reimrhythmus deuten auf eine andere (als die englische) Sprache hin - was geradezu nach einem Blick ins Booklet bellt/brüllt/grunzt/schreit/singt. Hier kann (und sollte) man dann die hochtrabenden/tiefschürfenden Texte mitlesen, die ansonsten bestenfalls erahnbar bleiben. Die z.T. egozentrierte/selbstmitleidige Lyrik der Anfangsalben wurde zugunsten sozialkritischer, tagespolitischer und weltumfassender Worte aufgewertet, sodass man den Jungs jetzt auch inhaltlich nichts Negatives mehr ankreiden/nachsagen/vorwerfen kann. Die AkteureIlja Lappin (Bass und Gesang), Moritz Schmidt (Schlagzeug) und Nils Wittrock (Gitarre und Gesang) haben laut der Credits sowohl Musik wie auch Texte gemeinschaftlich inszeniert und zusammen mit so einigen akustischen Gästen in den Rechner getackert. Schön, dann gibts ja zumindest bei der gematischen Tantiemenausschüttung schon mal keine Grundsatzdiskussionen. Ich weiß nicht genau, wie und wo die heutigen Youngsters ihr Fuß/Hand/Kopfwerk lernen, aber mit dem autodidaktischen Gestümpere meiner eigenen Bandvergangenheit hat das hier absolut nichts (mehr) zu tun: jeder Einzelne scheint mehr oder weniger alles immer spielen zu können und musikrelevante Aspekte wie Technik/Timing/Tuning verblassen neben den eigentlichen Songs komplett: THE HIRSCH EFFEKT sind für mich das deutsche oder einfach nur ein Paradebeispiel für die neue Generation olympiaverdächtiger Hochleistungssportler, nur eben musikalisch... Da mir vorab nur die MP3-Variante vorliegt, kann ich über den Sound der Scheibe im Vergleich zu richtig fetten Produktionen (noch) nichts Abschließendes schreiben. Was allerdings momentan aus den Boxen meiner Asbach-Uralt-Anlage dröhnt, deutet auf eine 100%ig professionelle Produktion hin, was die Vorfreude auf die bereits bestellte CD noch erhöht. Die deutsche Übersetzung des englischen Substantivs „escape“ lautet „Flucht“, das Verb „to escape“ dementsprechend „entkommen“ oder „fliehen“. Ein Eskapist ist also ein Mensch, der abhaut/entkommt/flieht/sich verpieselt/vom Acker macht. Aber wer flieht hier vor wem? Bellen/brüllen/grunzen/schreien/singen die hannoveranischen Hirsche über sich selbst? Und wenn nicht, was oder wen meinen sie dann? Wer THE HIRSCH EFFEKT noch nicht kennt, aber Kapellen wie WATCHTOWER, SIEGES EVEN und DILLINGER ESCAPE PLAN (again: escape!) zu ihren oder seinen Lieblingen zählt, sich ganz nebenbei neuen musikalischen Herausforderungen der anspruchsvollen/experimentellen/widersprüchlichen Art stellen möchte, muss hier zuschlagen – Pflichtkauf! Gesamtwertung: 10.0 Punkte | |
Trackliste | Album-Info |
01. Lifnej (06:36) 02. Xenophotopia (07:03) 03. Natans (09:17) 04. Coda (00:42) 05. Berceuse (04:23) 06. Tardigrada (01:56) 07. Nocturne (01:20) 08. Aldebaran (03:20) 09. Inukshuk (05:04) 10. Autio (01:36) 11. Lysios (14:14) 12. Acharej (05:40) | Band Website: thehirscheffekt.com/ Medium: CD Spieldauer: 61:11 Minuten VÖ: 18.08.2017 |
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