Interview mit Ricardo Amorim von Moonspell

Ein Interview von des vom 07.04.2021 (29423 mal gelesen)
Mitte März trafen wir MOONSPELL-Gitarrist Ricardo Amorim zu einem Skype-Gespräch. Ganz entspannt auf seiner sonnigen Terrasse im frühlinghaften Portugal war natürlich die Pandemie ein Thema, aber viel mehr drehte sich das Interview um Gitarren, Backgroundgesang und das großartige neue Album "Hermitage".

Wie geht es so? Was läuft bei dir?

Ricardo: Nicht viel, es ist gerade Naptime, aber wenn ich etwas Wichtiges zu tun bekomme wie gerade ein Interview, ist das eine willkommene Abwechslung. Meine Frau ist auch Gesangslehrerin und gibt gerade Gesangsstunden. Es ist hart, alles zu managen, aber bisher lief es gut. Wir sind auch gerade in der Pandemie, ich habe aber gehört, dass wir hier schrittweise Öffnungsschritte setzen. Nächste Woche machen die Kindergärten und Schulen wieder auf und auch die Geschäfte, auch die Kultur soll mit 19. April wieder teilweise öffnen. Im Januar war die Lage ziemlich ernst, aber seither sind die Infektionszahlen deutlich runter gegangen. Mal sehen, ob wir die Zahlen so niedrig halten können und wir wieder ein Stück Leben zurück bekommen.

Wie sieht es mit Impfungen aus?

Ricardo: Ja, wir impfen - zwar nicht so schnell, wie wir es gerne hätten - aber es läuft. Hier wurden zuerst Polizei und Militär geimpft, dann Krankenschwestern und Ärzte und Risikopersonen, wie alte Leute und kranke. Mein 90jähriger Großvater wurde letzte Woche geimpft. Ich hoffe, dass ich meine Impfung bis August bekomme.

Was macht ein Musiker während einer Pandemie?

Ricardo: Ich probe im Moment die Songs der neuen Platte, um sie zu beherrschen, wenn wir als Band zu den Rehearsals zusammenkommen und sie hoffentlich bald live spielen können. Und ich mache auch ein wenig Promotion für das neue Album und ich sammle auch Ideen für weitere Songs. imgright

Was sagt deine Familie dazu, dass du mehr Zeit mit ihr verbringen kannst?

Ricardo: Ja, das ist großartig, du kreierst eine starke Bindung. Mein Sohn ist drei und es ist wirklich turbulent, man muss ihn wirklich jede Sekunde im Auge behalten. Wenn du nur einmal weg siehst, begibt er sich sofort irgendwo in Gefahr [lacht]. Er geht auch noch nicht in den Kindergarten und aufgrund des Lockdowns hat er keine Möglichkeit, mit anderen Kindern zu spielen und soziale Skills zu entwickeln. Er hat nur uns und natürlich genießt er es, unsere volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Wir leben auch seit August 400 Kilometer von Lissabon entfernt in einem kleinen Dorf mit einer Population von 340 Personen, da gibt es viele Möglichkeiten, die Natur kennen zu lernen. Im letzten Jahr, als wir den ersten Lockdown hatten, haben wir einfach nur an den Songs gearbeitet; wir hatten sogar schon früh im Jahr 2019 mit den Arbeiten am Album begonnen. Im letzten Jahr machten wir die Preproduction mit dem selben Produzenten, mit dem wir schon "1755" gemacht hatten. 2019, nach der Tour zu "1755", waren wir aber nicht ganz zufrieden mit den Songs, die wir hatten. Sie waren nicht schlecht, aber nicht die Songs, wie wir sie wollten. Dann hatten wir noch dieses "little issue" mit dem Wechsel des Drummers. Wir kommunizierten aus der Ferne, vor allem Pedro steckte viel Energie in das Album, und als wir schlussendlich zusammen kamen, brachten wir auch gleich den neuen Drummer rein, der nicht nur die Songs probte, sondern ganz viel eigene Vibes eingebracht hat. Er hat die Songs richtig geboostet.

Ich war ziemlich überrascht, als ich das neue Album das erste Mal hörte. "Extinct" zum Beispiel hatte viele Hits und war geschrieben, um dem Publikum zu gefallen, "Hermitage" wiederum erfordert mehr Aufmerksamkeit.

Ricardo: Das ist eine interessante Sichtweise. Natürlich ist es uns immer ein Anliegen, dass die Leute unsere Musik mögen, und wenn wir einen Hit schreiben können, ist das gut. Bei "Extinct" hatten wir das Gefühl, dass wir uns an unserem frühen Material orientieren sollten und eine gewisse Happiness mit dunklen Sounds zu verbinden. Bei "Hermitage" wollten wir uns weiterentwickeln, ein Album "with no strings attached". Wir wollten als Songwriter frei sein und uns keine Grenzen setzen. Es geht musikalisch in eine ganz andere Richtung, wir sind auch sehr offen gegenüber anderen Stilen. Ich persönlich mag jede Art von Musik, es gilt nur die Regel, dass sie gut sein muss. Als wir die Musik begonnen haben zu schreiben, haben wir es einfach zugelassen und fanden, dass es gut klingt. Es ist egal, ob es nach Goth oder Punk oder was auch immer klingt, wichtig ist nur, dass es nach uns klingt. "Hermitage" bietet viel Atmosphäre; Atmosphäre war uns wirklich wichtig, weil es dem Zuhörer eine neue Erfahrung bringt. Und anstelle von Musik, die man schnell einmal streamt und dann wieder beiseite lässt, wollten wir eine gute altmodische Platte aufnehmen. Du und ich sind aus einer Generation, die sich hingesetzt hat und sich jedes neue Album unterm Kopfhörer genau anhört, die Lyrics liest, das Artwork genießt und nicht schnell im Auto laufen lässt. Das ist es, was wir mit dem neuen Album erreichen wollen, was uns als Künstler ausmacht, und es betrübt mich, dass das etwas verloren geht.

Für mich klingt es auch stellenweise nach PINK FLOYD, mit härterem Sound natürlich.

Ricardo: Ja, hm, dass will ich auch gar nicht abstreiten, es gibt einen starken PINK FLOYD Einfluss, das ist auch Musik, die uns gefällt. BATHORY hatte auch einen Einfluss. Das ist es auch, was eine Band ausmacht: Du startest eine Band, weil du verschiedene Arten von Musik magst. Der Trick ist, dass du die Einflüsse zu dir sprechen lässt, aber etwas Eigenes machst. Ich glaube wirklich, dass es so funktioniert, du empfängst es, absorbierst es und machst etwas Neues. Ich kann mich zum Beispiel gut daran erinnern als ich vor vielen Jahren auf einem Festival THE CULT gesehen habe. Ich kenne THE CULT seit Mitte der 80er Jahre und ich habe mir Ian Astbury nie genau angesehen. Und als ich ihn performen gesehen habe, dachte ich oh well, der ist von Jim Morrison beeinflusst. Aber er hat es geschafft, aus seinen Einflüssen sein ganz eigenes Ding zu machen. Ian Astbury ist mit Sicherheit ein Einfluss auf andere Sänger. Genauso ist David Gilmour ein Einfluss für mich, so wie ich vielleicht andere Gitarristen beeinflusse. Ja, da steckt etwas PINK FLOYD im Album, Epik, experimentelle Musik. Aber es steckt auch mehr drinnen, vielleicht etwas MARILLION, aber was wirklich wichtig ist: Am Ende des Tages muss es nach MOONSPELL klingen.

Wenn man die Karriere von MOONSPELL verfolgt, stellt man fest, dass ihr euch immer wieder neu erfunden habt, aber eurem charakteristischen Sound immer treu geblieben seid und es macht auch Sinn, oder?

Ricardo: Das macht Sinn, und wir haben auch das Bedürfnis, das zu tun. Ich will jetzt nicht andere Bands bashen, aber natürlich wäre es einfacher, sich an eine Formel zu halten, die erfolgreich ist - man wäre immer "on track" und hätte eine zufriedene Zuhörerschaft, aber für uns als kreative Künstler wäre das auch ziemlich frustrierend. Wir müssen uns verbessern und neue Sachen ausprobieren und experimentieren, ansonsten langweilen wir uns. Auch die nächste Platte wird anders klingen, velleicht ähnlich wie "Hermitage", aber ich bin sehr neugierig, wie weit wir gehen können in Bezug auf Musik und Songwriting. Die Leute sind es gewohnt, dass wir unseren Stil ändern, aber das ist unsere DNA.

Im Pressetext zum Album steht, dass ihr euch am Karriereausklang seht, aber es scheint zum Glück doch weiter zu gehen?

Ricardo: Das ist ein tricky Statement, nun, ich bin jetzt 47 und wir sehen uns nicht wie die ROLLING STONES, auch sind wir keine Band, die larger-than-life ist wie zum Beispiel JUDAS PRIEST oder IRON MAIDEN. Die können sich das leisten und tragen außerdem eine Menge Verantwortung, auch ist da viel Geld im Spiel und sie haben auch viele Verpflichtungen zu erfüllen, aber das ist deren Sache. Für uns dagegen sehe ich es nicht, dass ich mit 65 oder 70 noch auf einer Bühne stehe; mittlerweile sind wir alles Familienmenschen mit Kindern und wir wollen auch mehr Zeit mit ihnen verbringen. Das bedeutet keineswegs, dass wir in nächster Zeit aufhören. Aber wir blicken auf 30 Jahre Karriere zurück und wissen nicht, wie lange wir noch weiter machen. Aber wir versuchen das Beste zu machen und es fortzusetzen, solange wir können. Aber es ist eine gesunde Idee, sich bewusst zu machen, dass nichts ewig weiter geht. Ich selbst werde immer der Musik verbunden bleiben; wenn ich nicht performe oder in einer Band spiele, kann ich Songwriting für andere Acts machen oder Produktion oder Unterricht geben. Aber es besteht kein Grund zur Sorge, wir werden länger bestehen als man glaubt.

Warum spielst eigentlich nur mehr du Gitarre? Bis vor ein paar Jahren hatte Pedro auch Gitarre gespielt, er konzentriert sich aber nun rein auf die Keyboards.

Ricardo: Wir hatten ein bisschen die Dynamik verloren, die wir immer hatten, diese stärkere Keyboard-Präsenz in Kombination mit der Gitarre, was auch unseren Sound definiert. Es tut mir auch leid, das zu sagen, aber Pedro war auch nicht kompetent genug, das zu spielen, was wir geschrieben hatten - er ist auch kein klassischer Gitarrist, sondern nutzt die Gitarre als Werkzeug, um Musik zu schreiben. Aus dem selben Grund bin ich kein Keyboard-Player, auch wenn ich Musik am Keyboard schreiben kann, aber ich würde die die Rolle des Keyboarders live übernehmen. Es war zu seiner Zeit schon großartig mit zwei Gitarren, weil wir einen massiven Gitarrensound hatten. Aber als wir uns weiter entwickelten, dachten wir, dass sich Pedro auf sein primäres Instrument - das Keyboard - konzentrieren sollte. Ich bin froh darüber, weil wir schon ein wenig unseres Charismas verloren hatten. Es ist auch seltsam, wenn man live spielt und Keyboards hört, aber niemand Keyboard spielt. Wenn ein Keyboard in der Band ist, sollte es auch gespielt werden. Wir wollten keine Backing-Tracks mehr und mehr Band-Dynamik. Jetzt spielen wir alles live, was wir aufgenommen haben, bis auf ein oder zwei Samples. Und wegen der Heaviness - Pedro erschafft mit seinen Keyboards richtig heavy Sounds, er ist so ein Typ TYPE O NEGATIVE-Keyboarder, der dunkle, schwere Sachen mit viel Atmosphäre spielt.

Bezüglich deiner Gitarren ist mir beim Ansehen der "Liboa Under The Spell" aufgefallen, dass du während eines Sets so gut wie nie die Gitarre wechselst, wie es andere Gitarristen tun. Du hast eine schwarze Flying V und eine weiße Gitarre und das war es auch. Warum wechselst Du die Gitarren nicht öfter?

Ricardo: Tatsächlich habe ich an diesem Abend drei Gitarren benutzt. Die Flying V und zwei weitere. Warum ich nur drei benutzt habe? Ich bin ein Typ, der gerne mit einer Gitarre spielt, die alles abdeckt. Ich mag es nicht, ständig die Gitarre zu wechseln, das macht nur zusätzliche Arbeit wie Saiten wechseln, bedeutet auch für den Gitarrentech weniger Arbeit. Ich habe mir das auf Touren angewöhnt, wo man nicht immer eine große Backline hat und vieles selbst macht. Verstehe mich nicht falsch, ich muss auch nicht zeigen, was ich an Gitarren habe. Ich kann aber Bands verstehen, die andere Stimmungen verwenden, es gibt verschiedene Gründe für unterschiedliche Sounds, oder einfach nur um anzugeben, aber ich brauche das nicht, ich finde mir Gitarren, die den Job zu sagen wir mal 80 oder 90 Prozent erledigen. Was ich aber habe, ist eine Backup-Gitarre, falls etwas daneben geht oder eine Saite reißt und ich kann dann nicht ohne Gitarre dastehen [lacht]. Aber ich probiere schon neue Gitarren aus, im Moment versuche ich viel mit Fender und mag das sehr, es kann daher sein, dass ich bald Fender live spiele - aber dann auch nur eine und nicht zehn.

Mein Lieblingssong ist 'Full Moon Madness'. Den hast du sicher schon eine Million Mal gespielt. Liebst du den Song noch immer?

Ricardo: Ja, ich liebe den Song! Klar, ich habe ihn eine Million mal gespielt und er hat keine Geheimnisse mehr vor mir. Ich kann den Song spielen und gleichzeitig nachdenken, ob ich meine Steuererklärung richtig ausgefüllt habe oder was ich morgen zu Mittag mache. Es ist Autopilot. An diesem Song habe ich schon begonnen zu arbeiten, da war ich noch nicht einmal bei MOONSPELL und es war das allererste Ding, das ich der Band vorgestellt habe. Als wir nach "Wolfheart" neue Songs zu schreiben begannen, kam ich und sagte "Seht, ich habe das hier ..." - und es wurde einer der populärsten Songs der Band. Daher liebe ich ihn und habe noch immer einen riesen Respekt vor ihm, wie auch vor 'Alma Mater' zum Beispiel. Das sind Songs, wenn wir die nicht live spielen, bekommen wir ein Problem [lacht]. Ab der ersten Minute, wenn wir die Bühne betreten, ruft das Publikum "Alma Mater, Alma Mater", aber ich habe so viel Respekt vor dem Song und gelernt, wie viel er den Fans bedeutet, daher müssen wir ihn spielen.

Bei 'Alma Mater' singst du auch Background.

Ricardo: Grundsätzlich singe ich auch Background auf den Platten. Schon mein Vorgänger an der Gitarre, der bei "Wolfheart" gespielt hat, João Pereira (Tanngrisnir), hat Background gesungen und ich habe diesen Part übernommen. Es hat etwa ein Jahr gedauert, bis ich mich auch hinter dem Mikrofon wohl gefühlt habe und gleichzeitig singen und Gitarre spielen konnte. Und mittlerweile mache ich viele Backingvocals. Wenn wir ein Album aufnehmen, singt Fernando auch keine Harmonies über seinen Leadgesang, wie sollte das dann live funktionieren, er hat schließlich nur eine Stimme. Wenn ich also die Harmonies live singe, sollten sie auch auf Platte von mir eingesungen sein. So haben wir das auf dem neuen Album gemacht: Wenn du es dir anhörst, klingt es so, als würde die Band vor dir spielen und nicht wie eine Superproduktion.

Das ist Euch gut gelungen! Danke für das Interview und weiterhin viel Erfolg!

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