Ein Artikel von baarikärpänen vom 10.08.2017 (23573 mal gelesen)
Die BLUES PILLS an der Spitze der Charts, so wie OPETH, die eine Wandlung vollzogen haben, mittlerweile als reinrassige Vertreter des psychedelisch geprägten Hard Rocks durchgehen. STEVEN WILSON, dessen Reputation über alle Zweifel erhaben ist. Classic Rock oder Vintage Rock, wie einige es nennen, ist wieder angesagt. Naturgemäß müssen immer wieder die "üblichen Verdächtigen" herhalten, wenn es um die Einflüsse der Bands geht, die sich heutzutage im Classic Rock-Sektor breitmachen. Und ja, es gibt auch rein gar nichts daran auszusetzen, URIAH HEEP, DEEP PURPLE, LED ZEPPELIN, KING CRIMSON, JETHRO TULL, um nur die Speerspitze zu nennen, anzuführen. Diese Bands waren nun mal die sogenannten "Global Player". Ich bin mir allerdings auch absolut sicher, dass die Wenigsten der in der Szene aktiven Bands jemals etwas von KINGSTON WALL gehört haben. Also, was macht KINGSTON WALL für uns dennoch interessant? Eine Band, die es schon seit 1995 nicht mehr gibt. Ist es die tragische Geschichte? Oder sind es die falschen Business-Entscheidungen? Lasst uns doch einfach einen Blick auf KINGSTON WALL werfen.
Falsche Zeit, falscher Ort?
Helsinki, Finnland. Wir schreiben das Jahr 1987. Internet oder Mobiltelefone, so wie wir es heute kennen oder nutzen, gibt es noch nicht. Überhaupt ist das Land am nördlichen Ende Europas für viele ein dunkler Fleck. Musiker, die den Versuch unternehmen, weltweit für Furore zu sorgen, kann man an einer Hand abzählen. Die erste grosse Metal-Welle ist auf ihrem Höhepunkt. Härter, schneller, lauter die Devise. Das alles scheint drei junge Musiker aber überhaupt nicht zu kümmern. Petri Walli (Gitarre, Vocals), Jukka Jylli (Bass, Backing Vocals) und Sami Kuoppamäki (Drums, Percussion) beschließen, ihre eigene Vision in die Tat umzusetzen. Gut, fairerweise muss man sagen, dass es vor allem die Vision von Petri Walli war. Er gründet die Band, er schreibt fast alle Songs und Texte, wenn auch auf den Alben immer die komplette Band in den Credits aufgeführt wird. Darüber hinaus betrieb Walli auch sein eigenes Label, Trinity Records. Das Genre, in welchem sich KINGSTON WALL bewegten, war zu diesem Zeitpunkt mausetot und hätte keinen mehr hinter dem Ofen hervorgelockt. Walli verband, sehr geschickt und innovativ, die Musik von Jimi Hendrix mit Hard Rock, Progressive Rock und Acid Rock, alles garniert mit einem latenten fernöstlichen Einschlag. Dieser fernöstliche, vor allem indische, Einfluss machte sich auch im Spätwerk der Gruppe textlich bemerkbar, waren die Texte doch sehr mystisch angehaucht. Das mag dem Umstand geschuldet sein, dass Walli zu diesem Zeitpunk ein Anhänger der Lehre Ior Bocks war.
Ior Bock war ein finnischer Exzentriker und selbsterklärter Fachmann des finnischen Paganismus. Während der Sommermonate arbeitete Bock als Touristenführer in Finnland. Seine Winter dagegen verbrachte Bock im indischen Hippie-Mekka Goa, wo Walli ihn auch besuchte. Vor allem die "Bock Saga", ein mehr als fragwürdiger Versuch, den Ursprung des Alphabets, der Wörter und der gesamten Menschheitsgeschichte zu ergründen, hatte es Walli angetan.
Die Anfänge von KINGSTON WALL waren sehr bescheiden. Obwohl man regelmäßige Live-Auftritte in Finnland absolvierte, eine eingeschworene kleine Fanbasis hatte, war die Resonanz zunächst mittelprächtig und besserte sich auch erst mit dem Release des ersten Albums. Das KINGSTON WALL trotzdem ein eher erfolgloser, wenn auch im Nachhinein prägender Act blieben, mag dem Umstand geschuldet sein, dass sie sich nur auf ihre Heimat konzentrierten, im restlichen Europa unbekannt blieben. Lediglich ein einziger Auftritt außerhalb Finnlands, in Tallinn/Estland, ist dokumentiert. Ein weiterer Fakt war die nur geringe Auflage ihrer Alben, die alle auf Wallis eigenem Trinity Label erschienen. Erst gegen Ende ihrer aktiven Zeit konnten KINGSTON WALL, durch Mund-zu-Mund-Propaganda, grössere Clubs in Helsinki ausverkaufen.
Auch wenn sich seit dem Ende von KINGSTON WALL viel verändert hat, Finnland schon lange nicht mehr der dunkle Fleck auf der musikalischen Weltkarte sind, werden KINGSTON WALL noch heute von vielen Finnen als eine der besten einheimischen Bands im Bereich Hard Rock bezeichnet. Alle ihre Alben waren nach dem Re-Release in den Top 40 der finnischen Charts zu finden. Und auch weltweit, dank des Internets, nimmt man mittlerweile Notiz vom Phänomen namens KINGSTON WALL. Ihren Beitrag dazu leisteten übrigens auch AMORPHIS, die den Song 'And I Hear You Call' auf ihrer "My Kantele"-EP coverten.
KINGSTON WALL I
Das Debut, schlicht "Kingston Wall " betitelt, erschien 1992 auf dem Trinity Label. Obwohl außerhalb Finnlands nur schwer erhältlich, wurde es 1995 für den japanischen Mark lizensiert und der Titel beim Rerelease in "I" geändert. "Kingston Wall" ist das Album der Truppe, das eine Vielzahl an hardrockigen Einflüssen aufweist. Eindeutiges Highlight der Scheibe ist das 21-minütige 'Mushrooms', was, wie der Titel schon vermuten lässt, sehr verdreht daherkommt. Ebenfalls enthalten ein Cover des Hendrix-Songs 'Fire', der bei finnischen Radiostationen recht positiv aufgenommen und auch relativ oft gespielt wurde.
KINGSTON WALL II
Obwohl immer noch klar auf Hard Rock basierend, integrierten KINGSTON WALL auf dem 1993 erschienenen "II" genrefremde Elemente. So waren z.B. vermehrt akustische Instrumente zu hören und auch der Anteil der Folk-Elemente nahm zu. Eine Geige übernahm den Hauptpart beim Song 'Istwan' und ein Saxofon auf 'Shine On Me'. Und doch war es wieder eine Cover-Version, welche dem Album sowohl Airplay verschaffte, als auch Werbung für das Album machte. Dieses mal nahm sich die Band den Disco Classic 'I Feel Love' von DONNA SUMMER vor und verpasste ihm eine KINGSTON WALL-Frischzellenkur. 'I Feel Love' wurde übrigens erst kürzlich von Svart Records auf 7"-Vinyl wiederveröffentlicht, versehen mit einem schicken und psychedelisch-farbenprächtigen Artwork. "II" wurde, wie das Debut, auf dem bandeigenen Trinity Label veröffentlicht und ebenfalls einige Zeit später für den japanischen Markt lizensiert.
KINGSTON WALL III
Wer hat den Spruch nicht schon mal irgendwo gehört: das dritte Album einer Band ist das "Make it or break it". Und "III" (später auch unter dem Titel "III - Tri-logy" erschienen), veröffentlicht 1994, hätte wirklich das Zeug gehabt, um KINGSTON WALL auch im Rest von Europa endlich bekannt zu machen. Wie auf dem Vorgänger experimentierten KINGSTON WALL wieder mit ihrem Sound. Obwohl noch mal eine Spur hardrockiger wie "I", kombinierte die Band diesen Stil mit Dub Reggae und Techno, was wohl auf den ersten Blick für Stirnrunzeln sorgen dürfte. Aber dass dieses Experiment nicht nach hinten los ging, sondern auf "III" perfekt funktionierte, spricht für die Band - oder sollten wir besser sagen: für das Genie eines Petri Walli. Viele Kritiker sagen sogar, dass "III" als kongeniale rockige Reminiszens an den PINK FLOYD-Klassiker "The Wall" durchgeht Die Ursache dafür, dass "III", trotz aller erwähnten musikalischen Vorzüge, letztendlich nicht das "make it", sondern das "break it" für KINGSTON WALL war, liegt in den Texten. Wie bereits zuvor erwähnt, war Petri Walli ein Anhänger der "Lehre" von Ior Bock. Und von dessen, mehr als obskuren, Anschauungen, waren die Texte stark beeinflusst. Sehr philosophisch, sehr mystisch. Und von eben jenem Ior Bock sagte sich Walli schon Ende 1994, kurz nach der Veröffentlichung von "III", los. Ja, Walli schämte sich so dafür, dass er den Thesen dieses Mannes ein komplettes Album gewidmet hatte, dass er, im Einverständnis mit Jylli und Kuoppamäki, die Band nach dem letzten öffentlichen Auftritt in Helsinki, im Dezember 1994 zunächst auf Eis legte.
Sämtliche Scheiben von KINGSTON WALL wurden von SonyBMG auf CD wiederveröffentlicht und sind übrigens heutzutage immer noch relativ leicht für schmales Geld zu bekommen. Auch Vinyl-Liebhaber finden auf Svart Records noch viele Alben als sehr wertige Rerelease-Ausgaben.
Walli's Tod
Kurz nach dem vorübergehenden Aus von KINGSTON WALL zog es Walli wieder nach Indien. Von dort kehrte er am 28. Juni 1995 nach Finland zurück. Nur einige Tage später nahm sich Walli das Leben. Er sprang vom Turm der Kirche in Töölö (im Zentrum von Helsinki) in den Tod. Warum er diesen Weg wählte, ist nicht klar, aber enge Freunde sagen, dass Walli es einfach nicht verwunden hatte, einem Mann wie Ior Bock auf den Leim gegangen zu sein, ihm auch noch ein komplettes Werk gewidmet zu haben. Ebenfalls die Trennung von seiner Freundin, ein paar Monate zuvor, dürfte ein Faktor gewesen sein. Walli's Tod war dann letztendlich auch der Schlusspunkt hinter KINGSTON WALL.
Nach KINGSTON WALL
Jukka Jylli und Sami Kuoppamäki sind auch nach dem Ende von KINGSTON WALL der Musik treu geblieben. Beide spielen zusammen in der finnischen Band ZOOK. Sami Kuoppamäki ist darüber hinaus als Session-Musiker sehr gefragt. Die wenigsten dürften wissen, dass er unter anderem auf "Dreamspace" von STRATOVARIUS zu hören ist (er sprang für den damaligen Drummer Tuomo Lassila ein). Ebenfalls zu hören ist er auf "Reflections" von APOCALYPTICA, auch wenn die Credits damals an Dave Lombardo gingen.
Komplette Diskographie:
"Kingston Wall I" (1992)
"Kingston Wall II" (1993)
"Kingston Wall III - Tri-Logy" (1994)
"Real Live Thing" (Live, 2005)
"Essential" (Compilation, 2011)
"King Size Box" (Compilation 2012)
"We Cannot Move" (Single, 1993)
"Stüldt Håjt" (Single, 1994)
"The Real Thing, Radio Edits" (Single, 1994)
"Another Piece Of Cake" (Video, 1994)
"With My Mind" (Video, 2005)
"Kingtime" (DVD, 2015)
Um euch von den Qualitäten von KINGSTON WALL zu überzeugen, empfehle ich einen Blick auf eine Konzertaufzeichnung aus dem Jahr 1993 zu werfen (auch wenn die Qualität nicht die Beste ist).