Interview mit Gitarrist Oliver Nikolas Schmid von Lacrimas Profundere
Ein Interview von Stormrider vom 16.10.2022 (21151 mal gelesen)
LACRIMAS PROFUNDERE haben nicht nur zeitlich eine lange Reise hinter sich, sondern auch musikalisch. Dabei haben die Dunkelrocker aus Bayern ihre Wurzeln nie vergessen, aber doch auch immer wieder neue Elemente in den Sound eingebracht. Mit dem Einstieg von Sänger Julian, vor dem letzten Album, hat man bereits eine größere Kurskorrektur vorgenommen, die mit dem nun veröffentlichten "How To Shroud Yourself With Night" noch einen ganzen Schritt weiter getrieben wird. Wir klopften bei Gründungsmitglied, Gitarrist und Mastermind Oliver Nikolas Schmid an, um ein wenig mehr über das Album, eingesessene Gewohnheiten, die Angst vor Gene Simmons' Geldgier zu erfahren.
Hallo Oliver! Ist schon eine Weile her, dass wir das letzte Interview zusammen gemacht haben, 2013 um genau zu sein.
Oliver: Hey Pat, wow! Das ist wirklich ne lange Zeit. Aber wir merken ganz allgemein, dass dieses Album wieder mehr Beachtung findet als viele Vorgänger. Die Reviews sind unfassbar, und viele Leute schreiben mir, dass Sie uns von früher kennen, uns einige Jahre aus den Augen verloren hatten, aber jetzt wieder das alte Zeugs rauskramen. Mehr konnten wir mit dem Album nicht erreichen.
Na, dann lass uns am besten gleich in die Vollen springen. Ihr habt mit "How To Shroud Yourself With Night" ein sehr starkes neues Album am Start. (Zur Review geht's hier) Wie man im Promosheet lesen konnte, habt ihr während des Songwritings einen gewissen Druck gespürt, weil der direkte Vorgänger, "Bleeding The Stars", sehr erfolgreich gewesen ist. Da das Album nun schon eine Weile veröffentlicht ist, hat sich dieses Druckgefühl mittlerweile etwas gelegt?
Oliver: Ja definitiv. Wir hatten jetzt genügend Zeit um auszuspannen und loszulassen. Das Master war ja bereits im April beim Label, und dann lag es sozusagen nicht mehr in meinen Händen. Wir waren ab Mai eigentlich konstant auf Tour, einmal mit MONO INC., dann galt es die Festivals, die teils bereits vor Corona gebucht waren, nachzuholen und jetzt läuft gerade unsere Headlinertour. Also viel Abwechslung und neue Eindrücke, um runterzukommen. Alles wieder im Lot so weit, würde ich sagen.
Wenn Du mit etwas Abstand auf das Album zurückblickst, wie hat sich der Entstehungsprozess im Vergleich zum Vorgänger verändert? Zum einen natürlich im Hinblick auf die Coronasituation, zum anderen auf die Bandkonstellation? Denn Julian (Sänger, der vor "Bleeding The Stars" eingestiegen ist - Anm. des Red.) ist nun länger dabei, wie hat sich das Songwriting dadurch verändert?
Oliver: Es kam mit Ilker Ersin, der lange Zeit bei FREEDOM CALL aktiv war, ja auch noch ein neuer Mann am Bass dazu. Die Chemie zwischen uns allen stimmt gerade richtig gut. Trotzdem war der Prozess nicht einfach. Wir mussten wegen Corona nach den Gitarren- und Schlagzeugaufnahmen beinahe ein Jahr pausieren. Es wurden Flüge kurzfristig gecancelt, dann gab es wieder neue Einreisebestimmungen für Julian, der ja in Helsinki lebt, und dann durften wir uns nicht zu zweit im Studio aufhalten. Es war eine herausfordernde Zeit, um es freundlich auszudrücken. Irgendwann war ich dann an dem Punkt mich zu fragen: Wie geht es weiter? Und geht es überhaupt weiter, oder kann es überhaupt weiter gehen? Das führte mich zur eigentlichen Frage: Was ist Kunst? Was will ich hinterlassen, wenn dies unser letztes Album sein sollte? Die Antwort war klar: Ich möchte Ideen ausprobieren, zu welchen mir früher der Mut fehlte. Ein Album schreiben, welches überrascht, überhaupt nicht den Erwartungen entspricht und einzig und allein Gefühle auslösen soll, ohne nach Genres eingeordnet zu werden. Ja, wenn du es im Einkaufszentrum hören würdest, sollte es dich so runterziehen, dass du keinen Bock mehr hast auch nur einen Salatkopf zu kaufen! (lacht) Es fühlt sich gerade einfach so an, als hätten wir Jahrzehnte im selben Biergarten gehockt und haben jetzt einfach mal das Pub gegenüber ausprobiert. Und es gefällt uns da ausgesprochen gut.
Julian bringt ja als Sänger ein sehr breites Spektrum mit. Von klassischer Dark Rock/Metal-Grabessangesstimme hin zum Growling und Hardcoreshouting. Fällt es dir leicht, im Rahmen des Schreibprozesses Parts hierfür zu finden, oder anders, inwieweit gibst du als offensichtlicher Mastermind hinter LACRIMAS PROFUNDERE hier die Gesangsparts alle schon vor?
Oliver: Natürlich mache ich mir bereits meine Gedanken, wenn ich ein Riff schreibe, wie darauf gesungen werden könnte, halte mich dann mit Vorgaben aber sehr zurück und sende das Demo an meinen Bruder und Julian. (Christopher Schmid ist Gründungsmitglied der Band und war bis 2007 ihr Sänger - Anm. des Red.) Beide leben sich dann aus, und ich entscheide am Ende, was am besten passt. Da kann es dann auch sein, dass Teile von dem einen oder anderen genommen werden, oder ein Mix. Oder auch, dass ich die Musik ändere, weil eine Vox-Line besonders schön ist. Jeder neue Song ist bei uns ein Abenteuer, und mit Julian jetzt noch viel mehr! (lacht)
Wie haben sich die anderen Mitglieder in den Entstehungsprozess eingebracht? Wie du schon sagst, ist dein Bruder auch weiterhin mit seinen Lyrics in der Band involviert, auch wenn er nicht mehr offiziell als Bandmitglied geführt wird.
Oliver: Ja, mein Bruder ist nach wie vor mein erster Ansprechpartner. Mit unserem Drummer Domi arbeite ich jetzt auch schon so lange zusammen, dass wir uns blind verstehen. Ich sende ihm meine Gitarrenspuren und einige Zeilen, wie ich mir den Groove vorstelle, und er spielt es dann so ein, wie er sich wohl fühlt. Sehr selten ändern wir da dann was, manchmal auch erst im Studio zu den finalen Aufnahmen. Ilker hat sein eigenes Studio, und er hat dort alles aufgenommen und mir geschickt. Beides sind Vollblutmusiker, denen muss man nicht groß erklären, was sie zu tun haben. Ilker war nur etwas sauer, weil ich bei einigen Songs wie 'Lengthening Shadow' und 'Invisible Beginning' mehrfach die Tonart geändert habe, um Julians Stimme perfekt klingen zu lassen, und er dann alles von Neuem einspielen musste, und das kann ich wirklich sehr gut nachvollziehen.
Wenn du "How To Shroud Yourself With Night" mit "Bleeding The Stars" auf musikalischer Ebene vergleichst, wo siehst du selbst die größten Unterschiede? Ich persönlich finde, dass ihr noch mehr Elemente eingebracht habt, die am Ende das Spektrum des Bandsounds zwar öffnen, aber insbesondere im Bereich des Hardcore-Shoutings doch schon ein Stück weit entfernt sind von der klassischen LACRIMAS-DNA. Ja, es gibt immer auch wieder den Weg zurück, den ihr auf dem Album auch geht, für mich persönlich wird ein wenig zu viel gescreamt, insbesondere weil Julian ja auch ein grandioser Sänger ist.
Oliver: Ja, und das war mir sehr wohl bewusst, und ich würde lügen, hätte ich nicht auch das Gefühl gehabt, dass das Werk insgesamt schon sehr heavy geworden ist. Aber es geht ja nicht darum, Musik nach Logik, dem Vorgänger oder prozentualen Anteilen verschiedener Gesangsstilistiken zu schreiben, sondern um Gefühl. Wir hatten sogar noch vier Songs ohne Shouts übrig, die wir ohne Weiteres auf die Platte hätten packen können. Aber das wäre dem Album nicht gerecht geworden. Dieses Werk verlangte nach genau diesen zehn Songs, und man muss es völlig losgelöst zu uns oder anderen Bands betrachten. "Bleeding The Stars" und "How To Shroud Yourself With Night" zu vergleichen, ist in etwa so, als würde man Darth Vader mit Luke Skywalker vergleichen. "Shroud" ist die dunkle, mystische, waghalsige Seite, oder einfach der böse Bruder von "Bleeding"! Während "Bleeding" noch die Lage checkt, ist "Shroud" schon beim Fallschirmsprung. (lacht) Aktuell bekomme ich gerade so viele Reviews geschickt, und wenn ich von HIM, CRADLE OF FILTH, DIMMU BORGIR oder BILLY IDOL lese, dann ist das eben genau das, was wir erreichen wollten. Wer sonst schafft es, in einem Atemzug mit HIM und Metalcore genannt zu werden? Gibt es schon Goth-Core? Sonst erheben wir heute Anspruch darauf! Nicht dass Gene Simmons kommt und sagt er hat's erfunden, wie damals die Devil Horns von RONNIE JAMES DIO!!! (lacht)
Natürlich ist das aktuelle Album vermutlich noch zu präsent, aber wenn man sich die Entwicklung ansieht, was denkst du, wo könnte es auf der musikalischen Reise für LACRIMAS PROFUNDERE zukünftig noch hingehen?
Oliver: Gerade liebe ich diese Freiheit, das zu machen was ich möchte. Seit mehreren Jahren bin ich wieder auf den Trichter zu härteren Songs gekommen, höre viel DARK TRANQUILLITY, ARCH ENEMY oder PANTERA. Meine Liebe zu THE 69 EYES, TYPE O NEGATIVE oder PARADISE LOST ist aber immer in meiner DNA. Julian ist im Modern Metal zu Hause, und wir haben ihm und seinen Einflüssen mehr Freiraum gegeben. Dabei haben wir alte Muster verlassen, und wenn du dann uns Altmetaller mit dem jungen Metalcorler zu lange in einen Raum einschließt, kommt eben so was bei rum. Ich hoffe, wir werden uns noch lange selbst keine Schranken auferlegen. Mal sehen, wohin uns dieser Weg so führt. Wenn Julian in der Gesangskabine steht, hörst du einmal Matt Heafy, gehst kurz Bier holen und vermutest dann Ville Valo dort, und nach dem Essen kreischt Dani Filth. Dieses Potenzial mussten wir einfach nutzen - und es wäre doch dumm, würden wir uns nur auf eine der genannten Personen beschränken, weil, die gibt es ja schon. Die Mischung aber eben noch nicht.
Kannst du uns ein wenig was über die Texte verraten, auch wenn sie nicht explizit von dir stammen. Gibt es Lyrics, die dir auf dem Album besonders wichtig sind?
Oliver: Es geht grob gesagt um den Wunsch zu verschwinden, unsichtbar zu sein, sich nicht mehr mit sich und der Außenwelt auseinandersetzen zu müssen. Ganz allgemein gesprochen handelt es von Schatten, von Dunkelheit und mystischen Gegenständen. Wenn dich die Dunkelheit längere Zeit umgibt, dass sie eine Art Teil von dir wird, ist sie nicht länger das Unbekannte und verliert ihren Schrecken. Ja, so, oder so ähnlich würde ich den roten Faden spinnen. Mir ist jeder Text wichtig auf diesem Album, sehr passend zu mir ist die Zeile aus 'Lengthening Shadow' mit: "I am from chaos and I will leave you there"!
Das Artwork greift die Dunkelheit mancher Songs sehr gut auf und ist es Wert entdeckt zu werden. Schade, dass im Zeitalter von Streaming und Download so wenig Fokus darauf liegt. Lass uns dennoch ein wenig teilhaben, was es damit auf sich hat. Wie seid ihr auf Bahrull Marta gekommen? Und was siehst du selbst in dem Artwork?
Oliver: Ja, es zerreißt mir förmlich das Herz, wenn ich die Vinyl in Mattschwarz vor mir liegen habe, wohlwissend, dass die meisten diesen Eindruck des Covers nie bekommen werden. Es wirkt einfach so viel krasser, wenn du es in Händen hältst, als auf dem Bildschirm. Das alles kombiniert mit der durchsichtigen Vinyl, mehr geht meines Erachtens nicht! Zurück zur Frage: Als mein Bruder mit dem Titel um die Ecke kam, war ich erst mal erschlagen. Er passte einfach so gut mit meinen Songs zusammen. Dann stand ich aber vor der Frage: Wie soll man einen solchen Titel denn bitte abbilden? Also habe ich mich auf die Suche nach Künstlern gemacht und bin durch Zufall auf Bahrull gestoßen. Er hatte dieses Bild bereits erschaffen. Und es ist einfach perfekt. Dann habe ich ihn angefleht, es nutzen zu dürfen, und er hat uns sogar noch weitere geniale Arbeiten fürs Booklet und die Vinyl gezaubert. Es war also alles sehr einfach. Wir mussten uns eben nur finden. Wer allerdings nicht unerwähnt bleiben darf ist Jens Reinhold, war er es doch, der das alles dann zu dem Endprodukt zusammengefügt hat.
Ihr seid derzeit auf Tour. Vor ein paar Jahren wäre das eher nichts Ungewöhnliches gewesen, heutzutage sind Touren ja leider schon fast exotisch. Wie fühlt es sich an, wieder in Clubs auf der Bühne zu stehen? Hattet ihr "Startschwierigkeiten", oder war es schwer wieder zum alten Gefühl zurückzukommen? Und wie lief die Tour?
Oliver: Hahaha! Wie recht du doch hast. Aber das Gefühl war sofort wieder da. Wir hatten ja letzten September bereits die Möglichkeit, einige Shows zu "normalen" Bedingungen zu spielen. Es mussten nur alle ein Impfzertifikat nachweisen. Da war es schon so, dass ich mich ertappte bei der Frage, ob das jetzt alles wirklich real ist und gerade passiert. Aber darauf hatten wir ja eineinhalb Jahre hingearbeitet, also haben wir jede Minute genossen. Ich muss sagen, ich gehe jetzt anders in Live-Shows als noch vor Corona. Niemand hätte damals doch jemals gedacht, dass Clubshows, Festivals, Restaurantbesuche plötzlich nicht mehr erlaubt sein könnten. So stehe ich jetzt schon demütiger auf der Bühne und versuche alles noch intensiver zu erleben und einfach noch besser zu spielen. Es könnte jedes Konzert doch bereits schnell wieder für lange Zeit das letzte sein.
Was denkst du, als Kunstschaffender, über den im Herbst wieder bevorstehenden Flickenteppich, der sich an Corona-Schutzmaßnahmen über Deutschland verteilen wird? Beziehungsweise inwieweit beeinflusst das eure Planungen mit der Band? Manche Bands canceln ja bereits wieder ihre gebuchten Touren?
Oliver: Die Pandemie hat einen großen Riss in der Szene hinterlassen. Wenn du nicht RAMMSTEIN oder Wacken heißt, hast du mit einer drastisch gesunkenen Nachfrage zu kämpfen. So viele Bands sagen gerade ihre Tourneen ab oder verlegen bereits wieder, und die bevorstehenden Corona-Maßnahmen werden erneut Existenzen gefährden oder gar zerstören. Auch wir wollten mit größerer Produktion losfahren, eigenem Licht und so was! Am Ende waren es dann zwei Vertikalnebler und anstatt Drei-Mann-Crew musste unser FOH, Snorre, alleine ran. Du arbeitest mit den Vorverkaufszahlen. Die entscheiden, ob eine Tour gefahren wird und wie sie gefahren wird. Die Leute sind aber vorsichtig geworden, was ich gut verstehen kann. Dennoch, als Band brauchst du Planungssicherheit, und loszufahren und auf die Abendkasse zu hoffen geht einfach nicht. In der Woche vor den Shows sind bei uns die Tickets dann extrem angezogen, und so sind wir super zufrieden, wie das alles gelaufen ist und dass wir nicht eine der zwölf Shows canceln mussten. Wir haben bewusst unsere Tour in den September gelegt, weil wir die Befürchtung hatten, es wird ab Oktober wieder was mit Maßnahmen kommen. Jetzt, wo ich all die Ankündigungen höre, bin ich froh, dass wir für den Rest des Jahres nichts mehr angenommen haben, sondern Pause machen, bis sich die Lage wieder beruhigt hat. Nach zwei Jahren des Verlegens und Telefonierens mit Airlines habe ich einfach die Schnauze voll. Nächster Gig ist im Januar am Ice Rock in der Schweiz. Bis dahin hoffe ich, dass alles nicht so schlimm kommt und durch neue Maßnahmen nicht noch mehr Clubs sterben und Techniker abwandern.
Oliver, ich danke dir für deine Zeit - und wie es gute Tradition ist, gehören die letzten Worte dir. Noch etwas, was du unseren Lesern unbedingt mit auf den Weg geben möchtest?
Oliver: Danke an alle hier, die unser Album bereits in Händen halten oder täglich streamen. Allen, die jetzt bis hierher gelesen haben, danke ich sehr, besonders denjenigen, die uns noch immer nicht kannten, oder einfach nur beschissen fanden. (lacht) Spätestens jetzt solltet ihr noch mal ein Ohr riskieren!! Dieses Album vereint das Beste aus so viele Genres, gönnt es euch. Außerdem feiern wir nächstes Jahr 30 Jahre des Bestehens und da kommt ne EP oder volle Platte, mal sehen.
Wer sich einen Eindruck von der aktuellen Platte möchte lauscht hier: