Livebericht Thränenkind |
---|
Ein Livebericht von Zephir aus Stuttgart (Jugendhaus West) - 21.05.2016 (22989 mal gelesen) |
Es haben sich schon einige Stuttgarter vor dem Jugendhaus West versammelt, zischen draußen im Hof ein Bierchen und schwätzen. Sehr viele sind es nicht, denn die Location ist klein und Stuttgart-West kein typischer Magnet für die Metalszene. Aber es scheint auch eine bis dato als untypisch geltende Veranstaltung zu werden: Im Juha kann man natürlich Getränke kaufen und auch Ohropax, natürlich präsentiert man den üblichen Merch. Dazwischen finden sich aber auch Flyer und Broschüren, die der linksgerichteten, ökologisch orientierten Bildung dienen, weiterhin überraschenderweise auch einige Schriftwerke: Zwischen sachlich fundierten Werken zum Thema Anarchismus präsentiert man Henry David Thoreaus Walden. Warum man das Buch hier liegen habe? Ganz einfach, antwortet Matthias, Mastermind der Headliner THRÄNENKIND. Es sei eines der besten Bücher überhaupt, er habe es selbst gelesen und könne die Lektüre nur eindringlich empfehlen. Man meint es also ernst hier mit dem Nachdenken über Mensch und Umwelt, mit der Reflexion. Die Veranstaltung verspricht interessant zu werden. Draußen ist es noch frühlingshell, aber das macht nichts: Pünktlich um 20 Uhr beginnen KRAKE aus Ulm. Der gut verdunkelte Veranstaltungsraum des Juha ist locker gefüllt mit etwa 60 Leuten, unter deren Füßen schon nach wenigen Takten die Erde zu vibrieren beginnt. Die Ulmer Crustcore-Band ist noch recht unbekannt, aber es ist ihnen zu wünschen, dass sich das bald ändert - KRAKE zeigen Präsenz und gehen ziemlich ab. Sänger Benny tobt mit starker Stimme vor der Bühne umher, Drummer Kris vollführt Hochleistungssport, und in der Saitenarbeit von Gitarrist Joe Dreck und Bassist Andi Al Randale lässt sich ein gewisser Hardcore-Punk-Charme nicht leugnen. Die beiden Letzteren grölen übrigens zwischenzeitlich kräftig mit in ihre Mikros. Dieser Auftakt ist vielversprechend. Leider haben KRAKE nur eine halbe Stunde Spielzeit, in die sie aber reichlich Titelmaterial packen. Sie promoten ihr Debütalbum "Reise durch Utopia", das im Januar des Jahres im DIY-Verfahren produziert wurde und gegen eine Spende erworben werden kann. Ebenfalls lässt sich die Mucke über die der Bandcamp-Seite von KRAKE noch einmal nachhören. Setlist KRAKE Intro/Utopia Dürrenmatt Vergesst nur nicht Nachtwind im Rücken Montag Embargo Glaubensgeier 3000 Mal Wut Schmerz Zugriff Angst Outro/Utopia Es folgt eine kleine Umbaupause und dann wird die Luft mit wachsender Zuschauerzahl deutlich dicker. Etwa 90 Leute stehen erwartungsvoll da, als ANCST aus Berlin die Saiten stimmen und die Kehlen ölen. Der Blackened Crust wird bestritten von zwei Frontmännern, Tom und Torsten, zwei Gitarristen, Nico und Andi, und einem Bassisten, Stefan. Der Platz hinter den Drums bleibt leer, denn ANCST haben, so sagte man mir später, seit Bandgründung 2011 (damals noch ANGST) keinen adäquaten Drummer finden können. Also werden die Drums kurzerhand aus den Boxen geprügelt. Bevor dies passiert, gibt es aber zunächst noch eine kleine politische Ansage, die hier und da für Irritation sorgt: An der Front von ANCST, die laut ihrer Bandcamp-Seite ebenso wie die Jungs von KRAKE bekennenderweise antifaschistisch und antisexistisch unterwegs sind, habe man mit Unmut festgestellt, dass unter den Besuchern Patches von sich in politischen Grauzonen bewegenden Musikern getragen würden. Dies sei eine linke Veranstaltung und die Betreffenden mögen doch bitte noch einmal über derlei Themen sinnieren. Ist das betretenes Schweigen im Raum? Zustimmung? Unverständnis? Um wen geht's eigentlich? Im Dunkeln lassen sich die verdächtigen Patches nicht ausmachen. Nun ja. Meine gerunzelte Stirn glättet sich, als ANCST loslegen. Sie haben erstaunlich wenig Titel vom kürzlich erschienenen Album "Moloch" ausgesucht - gespielt werden aus dem Jahrgang 2016 natürlich der Titeltrack (und der gleich zuallererst), weiterhin 'Devouring Glass' und 'In Decline'. Das Publikum ist begeistert, obwohl ein Drummer fehlt. Man rückt dichter heran, schüttelt die Frisen, bangt, groovt, der Sauerstoff wird knapp, während es draußen unbemerkt dunkelt. Unmittelbar vor den Boxen stehend rüttelt mich der Sound gut durch. ANCST gehen stark stroboskopisch zu Werke, kommunizieren viel mit dem Publikum, halten zwischendurch inne, um einen Schwank aus den vergangenen Tourtagen zu berichten. Schließlich war man kurz zuvor schon in Berlin, Leipzig, Weimar und wo noch überall. In den Tour-Bus sei eingebrochen worden, man habe bei einem Gig Flaschen an den Kopf bekommen. Seufz. Setlist ANCST Moloch Patterns & Dreamers Devouring Glass Circles Seasons Of Separation In Decline Entropie Der Merch-Stand ist im Anschluss gut belagert. ANCST-Frontman Tom hat für die Veranstaltung ein exklusives Artwork designt, das es als Siebdruck in limitierter Stückzahl zu kaufen gibt. Neben den üblichen CDs gibt es eine Menge Vinyl im Angebot. Unter den Anwesenden, die überwiegend recht jung wirken, befinden sich vermutlich eine Menge moderner Retros, die ihre Sammlung ergänzen möchten. Es wird gefragt nach THRÄNENKIND-Girlies, die leider zurzeit (noch) nicht zu haben sind. Aber man führe eine Liste, versichert man am Merch-Stand, um zu belegen, dass der Bedarf besteht. Bevor THRÄNENKIND beginnen, trollt man sich wieder hinein. Der Raum wird noch etwas voller und noch viel stickiger, wie sich das gehört. Dass sich zum letzten Drittel des Abends die musikalische Atmosphäre wandeln wird, erkennt man schon an der Aufstellung: Während die Frontmänner von KRAKE und ANGST ihren Part direkt vor dem Publikum im Raum bestritten, bleibt bei THRÄNENKINDs Auftritt die Formation komplett auf der Bühne, im Auftakt alle Mann den Rücken zum Zuschauerraum gekehrt. Man stellt sich also auf sphärischere Klänge ein, die ich nach Anhören des neuen Albums "King Apathy" eher in reduzierterem Maße erwartet habe. Sie beginnen mit 'What We Believe In' und 'The Blood On Our Hands' vom neuen Album, und was mir auf der Aufnahme wesentlich mehr nach Hardcore-Crust klang als nach Post Black, erweist sich live als durchaus sphärisch, verträumt, teilweise gar shoegaze-ig, zumindest was die Musik angeht. Klar, dass man nun im Zuschauerraum nun versonnener dasteht, die Häupter sinnierend gebeugt, vor allem bei den beiden post-metallischen Nummern vom Album "The Elk": Man spielt 'This Story Of Permanence' und später auch 'Monument'. Sollten Pressestimmen behaupten, TRHÄNENKIND entfernten sich mehr und mehr vom Post Black Metal oder von den wabernden Tremolo-Gitarren, dann sollten die zugehörigen Ohren einmal einen Live-Gig besuchen, der das Herz jedes Post Metallers höher schlagen lässt. Die Verbindung zu ANCST und, hier in Stuttgart, auch KRAKE, rückt aber auch die Präsenz von THRÄNENKIND in einen Rahmen völlig jenseits von romantisiertem Aussteiger-Eskapismus: Es geht hier natürlich um Musik, aber auch um den Sturz des falschen Königs. THRÄNENKIND-Mastermind Mathias äußert sich hierzu anschließend in einem ausführlichen Interview (hier nachzulesen). Setlist THRÄNENKIND What We Believe In The Blood On Our Hands This Story Of Permamence King Apathy Ghosts Desperation Monument Homeruiner Auch wenn es zum Schluss hier und da recht Post-metallisch durch den Äther zieht: KRAKE, ANCST und THRÄNENKIND liefern an diesem Abend den Soundtrack zu einem im Grunde recht unromantischen Thema. Und so verlasse ich das Jugendhaus irgendwann nach 23 Uhr tief in Gedanken versunken: schwere Themen. Und geile Musik. Bilder mit freundlicher Genehmigung von Maxe Probst, www.maxeprobst.de |
Alle Artikel