Livebericht GREEN DAYs American Idiot |
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Ein Livebericht von des aus New York (St. James Theater) - 16.07.2010 (15055 mal gelesen) |
Vorab: aus rechtlichen Gründen war es leider nicht möglich, bei der Show zu fotographieren, doch die offizielle Gallerie gibt es hier Der Broadway in New York ist eigentlich eine der Haupt-Nord-Süd-Verbindungen, welche über mehr als 20 Kilometer Länge Manhattan durchzieht und von der Bronx im Norden bis zum Finanzviertel im Süden Manhattans reicht. Doch wenn man von "dem" Broadway spricht, ist zumeist der Bereich um den Times Square gemeint, wo sich Musical-Theater an Musical-Theater reiht. So werden hier täglich "Phantom Of The Opera", "Memphis", "The Lion King", um nur einige zu nennen, und eben die Broadway Adaption des GREEN DAY Konzept-Werkes "American Idiot" performed. Am Box Office wird zur Sicherheit am Nachmittag nochmals nachgefragt, was denn der Dresscode sei. "Casual" lautet die Antwort des älteren Herren in Anzug und Krawatte. "Was Du anhast, ist in Ordnung." Shorts und ein ziemlich verschwitztes Poloshirt also, am Broadway?! Irgendwie scheint das doch zu underdressed, deshalb wird sicherheitshalber ein Konzertshirt zu einen langen Hose angezogen. Aber diese Bekleidungsunsicherheit macht sich auch am Abend beim Einlass bemerkbar: man sieht Besucher in Anzug und Krawatte, Damen in Abendkleid und High Heels ebenso wie Leute in GREEN DAY Shirts und Jeans. Das St. James Theater ist eines der ehrwürdigeren seiner Zunft, klassisch und leicht abgeschmackt, aber sehr atmosphärisch und beeindruckend. Die Vorstellung ist ausverkauft, die letzten Karten werden an der Abendkasse zum halben Preis verkauft, die Schlange ist ansehnlich. Die Kartenpreise reichen von 49,- Dollar am oberen Balkon oder Plätzen mit eingeschränkter Sicht bis zu 129,- Dollar in der ersten Kategorie. Doch wie sieht eine Musikal-Umsetzung eines Punk-Konzeptalbums aus? Ganz anders als erwartet. Als sich der Vorhang hebt, folgt bereits die erste Überraschung: die Bühne ist unheimlich hoch und die Seitenwände, die unansehnliche Häuserfassaden darstellen, sind ganz getreu dem Motto "one nation controlled by the media" über und über mit Flatscreens gepflastert, die unablässig Nachrichtensprenkel senden. Die Bühne stellt damit einen abgefuckten Hinterhof dar und ist bis auf eine Stahltreppe kaum dekoriert. Sehr gelungenes und eindrucksvolles Bühnenbild. Was bei den ersten Tönen beim Hochgehen weiter überrascht: es gibt kein Orchester und demzufolge keinen Orchestergraben, vielmehr wird ab dem Eröffnungssong 'American Idiot' zünftig abgerockt. Dezent ist die Band auf der Bühne platziert: im rechten Hintergrund sind Schlagzeug und Bass platziert, während im linken Rand zwei Gitarristen abrocken. An klassischen Instrumenten werden nur zwei Geigen und ein Cello eingesetzt, die dezent in schwindelnder Höhe auf der Stahltreppe platziert sind - alle Musiker inklusive der musikalischen Leiterin, die auch Keyboard und Harmonika bedient, präsentieren sich im Punk-Outfit und voll abrockend. GREEN DAY selbst sind nicht dabei, die gab es nur bei der Premiere. Und so gestaltet sich der Abend eigentlich anders als erwartet: es gibt keinen Andrew-Lloyd-Webber-Schmalz, die Songs sind gegenüber den Plattenfassungen nur behutsam umarrangiert, neben dezenten Streichereinlagen umfassen die größten Änderungen klarerweise die Gesangsparts, die auf die verschiedenen Darsteller aufgeteilt werden und dadurch bombastischer aufgezogen sind. Die Handlung wird durch die Songs und deren Performance selbst getragen, auf Dialoge wird verzichtet. Erzählt wird die Geschichte Johnnys, eines jungen Mannes, der mit seinen Freunden Will und Tunny und seiner Gang in ebendiesem Hinterhof abhängt. Spontan beschließen die drei, ihrem sinnentleerten Dasein eine Wendung zu geben ('American Idiot'). Und so wollen sie in "die City" ziehen. Doch Will's Freundin wird ungewollt schwanger und so muss Will seine beiden Freunde alleine ziehen lassen. In der City wird erst einmal gefeiert, bis Tunny eines Morgens beschließt, der Army beizutreten, was ihn schließlich in den nahen Osten bringt. Johnny lernt mittlerweile Whatsername kennen, die von der bezaubernden rehäugigen Rebekka Naomi Jones verkörpert wird. Leider läuft ihm auch der Drogendealer St. Jimmy über den Weg, sein böses alter Ego. Johnny wird drogensüchtig und zerstört die behutsam aufkeimende Flamme der Liebe. Mittlerweile wird Tunny im Krieg schwer verwundet und lernt im Lazarett die Krankenschwester Extraordinary Girl kennen, der Song-Doppelpack 'Before The Lobotomy/Extraordinary Girl/Before The Lovotomy (Reprise)' stellt mit seinen hoch über der Bühne schwebenden Darstellern einen emotionalen Höhepunkt dar. Johnny bekämpft seine Drogensucht und St. Jimmy ('Know Your Enemy'), vor allem '21 Guns', von Whatersername eingeleitet und dem gesamten Ensemble vollendet, jagt Gänsehaut über den Rücken. Schließlich kehren Johnny und auch Tunny, dem sein verletztes Bein abgenommen werden musste, zusammen mit Extraordinary Girl nach Hause zurück ('Homecoming'), wo ihnen Will und seine Freundin ihr Baby präsentieren. Ein Jahr später - mittlerweile in einem bürgerlichen Job - trauert Johnny der verlorenen Liebe seines Lebens nach ('Whatsername'), in der Hoffnung, sie eines Tages wiederzufinden - der Vorhang fällt. Zur Zugabe tritt abschliesend der gesamte Cast nochmals mit Gitarren auf und performed 'Good Riddance (Time Of Your Life)' Die Besetzung ist hervorragend, es findet sich keine Pippi Langstrumpf-Darstellerin aus Hinterschwabing auf der Besetzungsliste, sondern nur hochkarätige Darsteller mit entsprechender Vita. Hauptcharakter Johnny wird von John Gallagher Jr. verkörpert, der bereits einen Tony Award für sich verbuchen konnte und auch aus dem Fernsehen ("Law & Order", "West Wing") bekannt ist. Stark Sands, der Tunny darstellt, hatte Rollen in "Flags Of Our Fathers", "11:14", "Nip/Tuck" und so weiter. Besonders beeindruckend ist Rebecca Naomi Jones, eine DER Stimmen des Abends. Auch in den Nebenrollen beziehungsweise im Swing finden sich hochkarätige Darsteller wie zum Beispiel Aspen Vincent. Wenn es da nicht klingelt: sie hieß früher Aspen Miller (mittlerweile mit St. Jimmy-Darsteller Tony Vincent verheiratet) und wurde vor allem durch ihre Tournee-Teilnahme als Duettpartnerin von Meat Loaf bekannt - zu sehen auf der "3 Bats Live"-DVD. Die stimmlichen Leistungen tragen in ihrer kernigen Darbietung den Punksongs Rechnung, und doch schafft es das Ensemble, die Tragik und das Drama der Story Gänsehaut-erweckend rüberzubringen. Auch die Showelemente wie schwebende Darsteller oder die Tanz- und Headbanging-Einlagen des Gesamtensembles wirken stimmig. Auch das Fehlen jeglicher Dialoge - sind wir mal ehrlich: die nerven eh nur - stört nicht. Die Handlung spricht durch die Songs für sich, für nötige Erläuterungen wird auf den Kniff zurückgegriffen, dass die Darsteller Briefe schreiben, aus denen zitiert wird. Bei Balladen greifen die Hauptdarsteller schon mal selbst zur akustischen Gitarre und bei der Zugabe steht das gesamte Ensemble mit Gitarren bewaffnet auf der Bühne - und einige davon können sogar spielen. Besonders gelungen sind die Umsetzungen von 'Holiday', 'When September Ends', 'Boulevard Of Broken Dreams', aber ganz besonders die Interpretationen der komplexeren Epen 'Jesus Of Suburbia' und 'Homecoming'. Nach der Vorstellung gibt es am Merch-Stand GREEN DAY Shirts und die Broadway-Cast CD (eine lohnende Anschaffung) zu kaufen. Bei den an der Theaterbar verbliebenen Besuchern schaut anschließend ein Großteil des Cast auf ein Autogramm oder ein Getränk vorbei. Einige Darsteller bleiben bis zur Sperrstunde und trinken eines mit und beantworten bereitwillig die Fragen. So wird zum Beispiel das Geheimnis gelüftet, wie es möglich ist, dass Backgroundstimmen ertönen, wenn nur ein einzelner Schauspieler auf der Bühne ist. "Wir singen hinter der Bühne weiter, während wir uns umziehen. Das solltest Du einmal sehen, das wäre eine Show für sich", erzählt Brian Charles Johnson, und auf die Frage, wie es die Darsteller schaffen, bei all dem Gehüpfe noch zu singen: "wir wurden vor Beginn der Show in ein Bootcamp gesteckt, wo wir auch körperlich trainiert wurden". Rebekka Naomi Jones wiederum erzählt, dass sie es schon ab und an müde ist, oft zwei Mal am Tag die selben Songs zu singen, aber die Resonanz des Publikums ist der Lohn dafür. "Bisher gab es nur positive Stimmen". Ein sehr gelungener Konzert-Rockshow-Abend (die Bezeichnung Musical passt nicht wirklich) mit einer wirklich stimmigen und sehr rockigen Show hinterlässt ein zufriedenes Publikum und einen illuminierten Schreiberling in die Nacht New Yorks, wo man mit einem Fat Tire im Irish Pub ums Eck nochmals die Show Revue passieren lässt. Setlist: 1. American Idiot 2. Jesus Of Suburbia 3. Holiday 4. Boulevard Of Broken Dreams 5. Favorite Son 6. Are We The Waiting 7. St. Jimmy 8. Give Me Novacaine 9. Last Of American Girls/She's A Rebel 10. Last Night On Earth 11. Too Much Too Soon 12. Before The Lobotomy 13. Extraordinary Girl 14. Before The Lobotomy (Reprise) 15. When It's Time 16. Know Your Enemy 17. 21 Guns 18. Letterbomb 19. Wake Me Up When September Ends 20. Homecoming 21. Whatsername Encore: 'Good Riddance (Time Of Your Life)' |
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