Heretoir - Solastalgia

Review von Zephir vom 18.09.2025 (683 mal gelesen)
Heretoir - Solastalgia Einen ganz besonderen Zauber beherrschen Musiker, die ihren Stil weiterentwickeln und gleichsam ihre unverkennbare, persönliche Note beibehalten. Die keine harten Brüche im Werk verzeichnen lassen, sondern im Schaffen von Neuem vertraut bleiben. Zu diesen Musikern gehören HERETOIR seit ihrer Debüt-EP ".Existenz.", welche anno 2009 von David Conrad aka Eklatanz noch allein getragen wurde. Inzwischen sind HERETOIR zu einer vollumfänglichen Besetzung herangewachsen, und in wohldosierten Abständen folgten drei Vollalben. "Solastalgia" ist nun die vierte LP, deren Erscheinungstermin nur zwei Jahre nach "Nightsphere" erstaunlich eng getaktet ist: Mir scheint, als hätten die Jungs 2023 etwas angesprochen, was nun ausgesprochen, weitergeführt werden muss. Um diesen persönlichen Eindruck zu erklären, muss ich zunächst ein wenig ausholen.

Im Fokus von "Solastalgia" steht der Schmerz im Angesicht einer sich zunehmend entfremdenden Welt, und vor allem der vorab ausgekoppelte Track 'The Ashen Falls' reizte einige Stimmen aus der Hörerschaft zu Vergleichen mit musikalisch ganz anders gelagerten Vertretern aus Hardcore und Death. (Das neue Release begleitet übrigens ein Wechsel von HERETOIRs langjährigem Label Northern Silence zu Art Of Propaganda - aber das nur am Rande.) Persönlich sehe ich 'The Ashen Falls' in einer Genealogie, innerhalb derer ein Song wie 'Twilight Of The Machines' (2023) einen unmittelbaren Vorgänger darstellt, und in der gleichen Ahnenhistorie verorte ich beispielsweise auch 'Graue Bauten' (2011): Gerade dieser Track kommt mir seit "Nightsphere" immer wieder in den Sinn. Das vorliegende jüngste Album verstärkt die Erinnerung, wenngleich die Musik mittlerweile eine Entwicklung hin zu rhythmisch wie technisch differenzierterem Songwriting, zu mehr Präsenz und weniger Eskapismus, aber auch zu mehr Transluzidität und Post Rock-Experiment durchlaufen hat.

Dass Präsenz und Eskapismus sehr gut zusammengehen, haben HERETOIR in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, nicht zuletzt mit dem 2017er Album "The Circle", welches damals von der Kritik gemischt aufgenommen wurde und meines Erachtens zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat. Zwischen Post Rock und Shoegaze schlummerte hier keineswegs lächelnde Freundlichkeit: Die Beschäftigung mit den Lyrics und dem Artwork offenbarte schon vor acht Jahren, dass hier in musikalisch abgewandeltem Gewand weitergeführt wurde, worum es bei HERETOIR seit Anbeginn ging. Während die Post Black-Introspektive von 2011 die grauen Bauten als Zuflucht und gleichzeitiges Gift in meinen Adern offenbarte, rückte "The Circle" die Perspektive zumindest vordergründig in eine shoegazig entrückte Metaebene - die grauen Bauten, über denen das postrockige, postmetallische 'Inhale' schwebte, erscheinen im Artwork nächtlich erleuchtet und aus der Vogelperspektive. Aber die inhaltliche Referenz ist eindeutig: Grey structures, both shelter and the poison in my veins. "Nightsphere" tauchte dann hinab in die Dunkelheit, hinein ins Räderwerk unserer Zeit, und "Solastalgia" schließlich befindet sich nun mitten in ihrem sichtbaren Zerfall.

Dieser ist auch hörbar: Das neue Album knüpft mit seiner musikalisch deutlich härteren Gangart an "Nightsphere" an. Melancholischen Post Black Metal gibt es noch immer; hinzugekommen sind möglicherweise dem Death oder Hardcore entlehnte synkopische Gitarrenmotive, wie sie gleich im Opener 'The Ashen Falls' einschlagen und sich mit den typischen Post-Passagen wunderbar verbinden. Eine ähnliche kompositorische Kombination finden wir in 'You Are The Night', in der sich die wuchtigen, tiefen Synkopen mit deprimiert um sich selbst kreisenden Ostinati mischen. Dieser dezent coreige Einschlag vermittelt sehr viel mehr Gegenwartspräsenz als der versonnene Post Black Metal, hinzu kommt ein mehr oder minder direkter Bezug auf das ebenfalls stets gegenwartsbezogene Genre Punk, nämlich vermittelst dem Sprachsample gegen Ende des Songs, der inhaltlich von TURBOSTAAT inspiriert wurde. Eingesprochen hat die Spoken Words Michael Douglas der britischen Crust Punker FALL OF EFRAFA. Das ist eine Mischung, die bereits bei Bands wie KING APATHY bestens funktioniert hat, die HERETOIR aber hier in ihrem ganz eigenen Stil präsentieren. So ist auch der Post Black nach wie vor als Trademark vorhanden - stark herauszuhören in 'Season Of Grief' mit seiner unzweifelhaften Reminiszenz aus 2011: I retreat to hibernate. Wer HERETOR schon länger mitverfolgt, kennt den gleichnamigen Instrumental-Track.

Als Überraschungsnummer beginnt 'Inertia' mit seinem modernen Offbeat und dem begleitenden Piano, welches im instrumentalen 'Rain' den Lead übernimmt (verantwortlich: ein Herr namens Georg Braunbeck). Auch 'Dreamgatherer' schlägt andere Saiten an, in Dur gehalten und mit einer vokalen Mischung aus harschen und weichen, clean gesungenen Lines. Hierzu kurz die Info, dass neben dem Frontmann David auch Gitarrist und Bassist Matthias Settele sowie Drummer Nils Groth mit unterstützenden Vocals zu hören sind. Über den Verbleib der erst in jüngeren Jahren eingestiegenen Gitarristen Max Forst und Kevin Storm ist mir nichts bekannt.

Es geht weiter mit 'The Heart Of December', einem Song, der sich mit unverzerrten Gitarrenklängen und unerwarteter Drum-Arbeit im Compound-Takt sehr bewegt präsentiert. Die zunächst ätherischen, mehrstimmigen Gesangslines, im Tonumfang gering gehalten, stehen dazu in interessanter Spannung, die sich erst im letzten Drittel des Songs im HERETOIR-typischen Klagegesang auflöst. 'Burial' greift alsdann die dunkle, zornige Stimmung des ersten Albumdrittels wieder auf und hat damit den Charakter einer Reprise. Der Track arbeitet sich vor bis zu Blastbeat-Geschredder, das an vergangene Jahre erinnert, ohne den Charakter des Gesamtwerks zu verlieren.

Erst an vorletzter Stelle kommt der Titeltrack 'Solastalgia': Melancholische, unverzerrte Gitarren, die einsame Stimme des Fronters, eine ebenso niedergeschlagene wie versonnene Stimmung, die sich über zunehmend verzerrte Riffs und heiseres Geschrei bis zur alles überspülenden Post Black Metal-Welle steigert, um schließlich wieder abzuebben und in trauriger Sehnsucht zu verbleiben - das sind alles ganz klar Markenzeichen von HERETOIR. In diesem Song kulminiert meinem Empfinden nach die obenstehend beschriebene Genealogie des schon immer solastalgischen Schaffens von David Conrad und seinen Mitstreitern. 'The Same Hell MMXXV' verbleibt als eine Art Outro mit sprechendem Titel.

Bis hierhin möchte ich feststellen, dass sich "Solastalgia" absolut folgerichtig und überzeugend in HERETOIRs Historie einreiht. Ob der abschließende Track, eine Coverversion von IN FLAMES' 'Metaphor', zum Kern des Werkes dazuzuzählen ist, ob er einen Ausblick auf Folgendes gibt oder einfach nur als eine Art Bonus mit auf dem Album gelandet ist, weil die Band Spaß daran hatte, kann ich allerdings überhaupt nicht einschätzen. Aber irgendein Rätsel muss wohl auch immer offen bleiben.



Gesamtwertung: 9.0 Punkte
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Trackliste Album-Info
01. The Ashen Falls
02. Season Of Grief
03. You Are The Night
04. Inertia
05. Rain
06. Dreamgatherer
07. The Heart Of December
08. Burial
09. Solastalgia
10. The Same Hell (MMXXV)
11. Metaphor (IN FLAMES-Cover)
Band Website: heretoir.bandcamp.com/album/heretoir-2
Medium: CD, LP
Spieldauer: 01:02:59 Minuten
VÖ: 19.09.2025

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