Von der Freiheit eines erwachsenen Menschenkindes

Ein Artikel von Zephir vom 02.02.2014 (8808 mal gelesen)
Am Anfang steht das Menschenkind: Eins mit sich selbst, eins mit dem Außen, mit dem Himmel, mit der Erde. Am Anfang. Es bleibt kaum Zeit für ein tiefes Atmen, das Erwachsenwerden führt durch Wirren und Wandlung, durch Luft und Wasser und Flammen: Das erwachsen werdende Menschenkind im Zwiegespräch, ja im Zwiespalt zwischen Selbst und Ich. Von Flammen zum Traum zurück zur Erde...?
Und am Ende: Stille.

Solche und ähnliche Empfindungen weckt in mir das achte Album von DORNENREICH, und es sind zum Teil rein subjektive Interpretationen. Denn wie so oft bei den österreichischen Avantgardisten wird hier vieles angedeutet, das vage bleibt und wie ein Bogen höheren Sinnes über das gesamte Werk gespannt scheint. "Freiheit" könnte im nunmehr achtzehnten Jahr des Bandbestehens Volljährigkeit markieren, hätte man die nicht schon längst in den vergangenen Alben musikalisch und lyrisch konstituiert gefunden. Dennoch, so scheint es manch einem Anwesenden bei der Pre-Listening-Session am 25. Januar, repräsentiert "Freiheit" die Essenz von DORNENREICHs gesamtem bisherigem Schaffen.

Ob man das so sehen könne? "In jeder Hinsicht", bestätigt Jochen "Evíga" Stock - sowohl bezüglich der textlichen Inhalte als auch auf musikalischer Ebene. Es ist nur logisch, dass so eine ganzheitlich-retrospektive Aussage auch Spekulationen über das zukünftige Wirken der Band heraufbeschwört. Schließlich hatten DORNENREICH schon mit dem 2011 veröffentlichten Album "Flammentriebe" angekündigt, dies sei nun das letzte Metal-Werk, und dem umfassend gehaltvollen "Freiheit" soll eine längere Pause folgen, deren Länge aber, so betont Jochen, freilich keine absolute Größe sei ... daher schieben wir nun die zu erwartende Durststrecke erst einmal an den Rand des Geschehens und widmen uns der neuen Platte, die am 2. Mai 2014 über Prophecy Productions erscheinen wird.


"Laut und lässig sein geht recht flott. Aber sich durch eine Muttersprache zu bewegen, das ist ein sehr schmaler Grat." (Evíga)



Zum Pre-Listening eingeladen haben Label-Manager Stefan Belda und Produzent Markus Stock in des Letzteren Tonstudio, die Klangschmiede Studio E im unterfränkischen Mellrichstadt. In entspannter Atmosphäre präsentieren Jochen und Thomas "Inve" Riesner ihre neue Platte, deren Mastering an eben diesem Tage erst abgeschlossen wurde. Bei so viel zeitlicher Nähe zum Schaffensprozess fehlt es den Musikern naturgemäß noch ein wenig an innerer Distanz, wie die beiden auch mehrfach fast entschuldigend zugeben.

Der musikalische Rohmix stand bereits im November 2013. Das restliche Procedere nahm dann so viel Zeit in Anspruch wie bei keinem anderen Album zuvor - so viel Material hatte man konzipiert, das anschließend in perfektionistischer Manier gesiebt und optimiert wurde. Dabei hat sich das über viele Jahre gewachsene Künstler- und Vertrauensverhältnis zwischen Band und Produzent bewährt. Entstanden ist eine Art Konzeptalbum, das auf verschiedene bisher von DORNENREICH bekannte Elemente zurückgreift, dem aber durchaus auch neue, in der Form noch nicht gehörte Stile hinzufügt. Das als "nicht mehr Metal" erwartete Album ist überwiegend akustisch gehalten, beherbergt aber noch zwei verstärkte Kracher mit unkonventionellem Dunkelmetall. "Freiheit" schließt dort an, wo "Flammentriebe" 2011 geendet hatte: acht Tracks mit interpretationsbedürftigen Titeln sprechen von Menschwerdung, von nicht immer leicht zu deutender Positionierung eines kleinen Menschenwesens in der Welt, von Entwicklung und Schwellen und Übergängen. Jedes Stück sei "eine Reise für sich", sagt Jochen, der die Texte wie immer in metaphorischer, symbolbeladener deutscher Sprache geschrieben hat. Ein Song führt zum nächsten, die Übergänge sind teils musikalisch und inhaltlich markiert, teils verwaschen. Das Gesamtwerk ist in sich kreisförmig geschlossen, und doch ist kein Track wie der andere. Es ist stark introspektiv, gleichzeitig führen die metaphorischen Bilder immer wieder ins Außen.

Klingt abgehoben? Mag sein. Aber einfach zu fassen ist "Freiheit" nicht, weder in seiner textlichen noch in seiner kompositorischen Struktur. Wer sich jemals an eine intensivere Auseinandersetzung mit Alben wie "Durch den Traum" (2006) gewagt hat, wird verstehen, was ich meine.


"Wenn man Intensität zeigt, ist das oft harmonisch auch intensiver ... eben außerhalb von reibungslosem Dur-Moll-Geschehen." (Inve)



Musikalischer Grundtenor von "Freiheit" ist Spannung und Kontrast. Zugegeben, das ist nicht neu, denn die extremen dynamischen Schwankungen in Musik und Intonation sind seit vielen Jahren und vielen Alben charakteristisch für die Österreicher. "Ich kenne keine Band, bei der die Dynamik so eine ausschlaggebende Rolle spielt wie bei DORNENREICH", sagt Produzent Markus. Im musikalischen Konzept von "Freiheit" spielt die Mischung von Intuition und Technik eine große Rolle, in der die Musiker sich während der kompositorischen Tätigkeit ergänzen. Das Zweiergespann Akustikgitarre und Violine kontrastiert mit sparsam eingesetzten, aber umso wirksameren Metal-Parts. Ebenso zeigen sich teils extreme Gefälle zwischen ruhigen, bewusst einfach komponierten Parts, die - um es mit Jochens Worten auszudrücken - "Mut zur Schönheit" offenbaren, und komplexen harmonischen Kreuz- und Quergängen. "Abseits von Dur ist sehr viel möglich", fasst Inve zusammen, "ohne Dissonanzen ist DORNENREICH nicht denkbar."

Die ersten drei Tracks wurden live eingespielt, entbehren der rhythmischen Orientierung aufgrund des fehlenden Schlagwerks, das erst später zum Einsatz kommt. Wieso ist Drummer Moritz "Gilván" Neuner wieder nur streckenweise zu hören? "Es haben einfach nicht alle Stücke nach Schlagzeug geschrien", lautet Jochens Erklärung. Lange war unklar, in wie viele Stücke das Schlagzeug überhaupt mit einbezogen werden sollte. Dafür habe man an den Stellen, an denen Moritz nun dabei ist (und das sind schließlich auch nicht wenige) viel experimentiert und verschiedenes Perkussionsinstrumentarium probiert, bis das Ergebnis sich mit den Vorstellungen der Musiker deckte. Die einzelnen Elemente - bewegte und kontemplative Akustikparts, leidenschaftliche und tobende Metal-Einschübe - verleiten durchaus dazu, "Freiheit" auf vergangene Alben rückzubeziehen. Aber auch wenn die achte Veröffentlichung einer langjährig aktiven Band in der Rezeption nie für sich allein stehen kann, möchte ich trotzdem versuchen, die Platte als eigenständiges Werk zu betrachten und aus Vergangenem wiederkehrende Parts nicht als Wiederholung, sondern als Stilcharakteristika zu begreifen. Werfen wir einen Blick auf die einzelnen Tracks.


I. Im Ersten aller Spiele

Eröffnet wird "Freiheit" durch Akustikgitarre und Geige, was so manchen Hörer an "In Luft geritzt" erinnern mag. Die Stimmung ist lyrisch und luftig, fast ein bisschen Singer-Songwriter-Stil, die Stimme steht tendenziell im Vordergrund. "In Form und Farbe, Licht und Handlung,/es mag sein und liebt Verwandlung/fühlt das Kind" - das Synästhetische dringt aus allen Tönen und Worten.


II. Von Kraft und Wunsch und jungen Federn

Dem "lichtgefiederten Vogel", von dem Nummer I spricht, knüpft der zweite Titel an. "Tausend Masken, tausend Kleider,/tausend Worte wirren mich ..." Mit Thomas' dominanter Violine klingt die Musik nach ungarischer Volksweise, leidenschaftlich mit Flüstern, Raunen und heftiger Intonation, mit zeitweise widrig dissonanten Harmonien. Zwischendurch sind verträumte Parts eingewoben, die das Ganze rhapsodisch wirken lassen.


III. Des Meeres Atmen

"Es atmet so wie du das Meer". Nummer III ist meditativer, balladesk, mit viel Gänsehaut-Potenzial. Am Ende setzt - was mich überrascht hat - der Sound von Meeresrauschen ein. Man möchte mit atmen und atmend in diese Musik versinken. Anmerkung: Motive aus diesem Track wurden bereits als Bonusmaterial für "Flammentriebe" konzipiert, dann allerdings in diesem Rahmen als unpassend empfunden.



IV. Das Licht vertraut der Nacht

'Des Meeres Atmen' geht fließend über in Nummer 4, einen Titel, der ebenfalls kontemplativ beginnt und ursprünglich als komplett akustisches Stück entstanden ist. Hier haben Jochen und Thomas aber im Nachhinein Hand angelegt: Nach einigen Takten wird die schwere, metallische Seite DORNENREICHs herauskehrt. Den verstärkten Gitarrenriffs ist nicht nur die Geige, sondern teils auch die Akustikgitarre übergelagert; die arrangierte Mehrschichtigkeit spiegelt die diffusen lyrischen Vorgänge, die schreien von "freienden Kräften, lösenden Kräften,/bindenden Kräften,/einenden Kräften".


V. Aus Mut gewirkt

Dieser Track geht noch am ehesten ins Ohr, so weit man das von einem DORNENREICH-Song überhaupt sagen kann. Es ist der zweite der zwei Metal-Songs, die auf diesem Album zu finden sind. Nachdem die ersten vier Titel starke Gewichtung auf die Stimme gesetzt haben, verkürzt sich hier der Text elliptisch in Form und Gehalt, die Vocals sind präsent, treten aber zunehmend in den Hintergrund.


VI. Im Fluss die Flammen

Ein überraschend akkurater Beat stützt den affirmativen Zirkel, der aus der absoluten Introspektive in die Welt hinauszugehen scheint und wieder ins Innere zurückkehrt: Am Anfang steht "dein Mut", am Ende steht "dein Mut". Wenn dieses Album von der Entwicklung eines Selbst, eines Ich berichtet, dann scheint dieser Track eine Art Offenbarungserlebnis zu sein. Die Musik hat einen leichten Folk-Touch, ohne aus dem Rahmen zu fallen. Als dezenten Ausreißer empfinde ich dieses Stück dennoch.


VII. Traumestraum

Track Nummer 8 ist wieder metaphysisch versponnen, gleichzeitig dunkel und hell, vielschichtig, ohne diffus zu sein. Der lyrische Gehalt lässt ein wenig an "Durch den Traum" erinnern, woran nicht nur der Titel Schuld hat, sondern auch ätherisch-transzendente Verse wie: "... dieser Welt versterbend ... bin ich zwischen hier und dort".


VIII. Blume der Stille

Die Musik des letzten Stückes existiert schon seit 1997, wie Jochen sagt, und fand wie auch immer ihren Weg auf das jüngste Album. In dieses akustische Instrumentalstück kann man abermals versinken, irgendetwas im Background klingt wie Atem oder wie das Rauschen der Gezeiten. Die Musik mündet in eine Tiefe, deren Ursprung sich gar nicht recht erklären lässt. Ich habe das Gefühl, dass sich im Element Erde der Kreis schließt.


Vom Bewusstwerden des Innen und des Außen



Einer der wenigen Punkte, die nach dem ersten Hören offensichtlich sind: Es geht um reflektierte Innerlichkeit, um die Positionierung des Ich und des Selbst, des erwachsen gewordenen Menschenkindes in der Welt. Auf die Frage, ob dem denn ein bestimmtes Weltbild zu Grunde liege, darauf antwortet Jochen aber nach einigem Überlegen mit ziemlich deutlichem "nein". Nun existiert im menschlichen Dasein schließlich noch viel über das sogenannte Weltbild hinaus, ebenso wie auch das Wort, das geschriebene wie das gesungene, geflüsterte oder geschrieene, "über das Reich der Worte hinaus" führen kann, wie Jochen selbst für DORNENREICH konstatiert.
Ob er erwarte, dass sich auch die Hörer solche Gedanken um das Werk machen? "Wir sind nach wie vor keine Band, die in erster Instanz an die Rezeption denkt", sagt Jochen. Trotzdem mache man immer wieder positive Erfahrungen mit Hörern, deren Interpretationen in erstaunliche Tiefen dringen.

Wenn eine Band ihre Arbeit nicht in erster Linie an möglichen Hörermeinungen ausrichtet, sind durchaus auch Gestaltungsmöglichkeiten drin, die den Rahmen der Publikumserwartungen sprengen. So ziert das Cover diesmal ein für das nach wie vor schwarzmetallisches Erbe tragende Album erstaunlich farbenfrohes Foto - ein rotgoldener Sonnenuntergang über einem schwarzen Meer, der gleichzeitig als Sonnenaufgang gesehen werden kann und soll. Ursprünglich war angedacht, das Artwork wieder von Jochens Vater malen zu lassen, das Foto schien dann aber für die Thematik passender. "Das Cover transportiert wahnsinnig viel", sagt Jochen. Für das große Thema "Freiheit" sollte es ein adäquates Motiv sein: Das Meer, das Licht und das Dunkel, die Übergänge zwischen Tag und Nacht sollen die Essenz von "Freiheit" visuell zum Ausdruck bringen.

Als Fazit anzuführen, dass man sich hörend selbst ein akustisches Bild von DORNENREICHs neuem Album machen müsse, wäre wohl ebenso lakonisch wie lapidar. Anschaulicher lässt sich der Charakter von "Freiheit" vielleicht mit Hinweis auf die Alben "Hexenwind" und "In Luft Geritzt" beschreiben - dies aber nur unter ausdrücklichem Vorbehalt. Denn "Freiheit" ist kein Reload und auch kein Remix der vergangenen Werke, und auch wenn "Flammentriebe" sich in gewisser Weise mit dem Menschsein auseinandersetzt, ist "Freiheit" doch ganz anderer Natur: Es ist affirmativer, lyrischer, zentrierter und damit in vieler Hinsicht sehr mutig. Von seinem Zentrum aus schweift "Freiheit" expansiv in die Peripherie jenseits von greifbarem Gehalt. Auf diese Daseinsreflexionen sollte man sich letztendlich einlassen können.
Und das Spannende an der musiakalischen Vielfältigkeit und der elliptischen Lyrics ist schließlich, dass sie auch einander widersprechende Assoziationen und Bilder hervorbringen können ...

Zum Album zusätzlich veröffentlicht wird übrigens eine Bonus-EP, auf der unter anderem die Stimme von Thomas Helm zu hören sein wird. Darauf ebenfalls zu finden ist die Metal-Version von 'Jagd' (Album "In Luft Geritzt", 2008) und die Akustik-Version von 'Reime Faucht Der Märchensarg' (Album "Bitter Ist's Dem Tod Zu Dienen",1999) , die schon auf diversen Live-Konzerten zum Besten gegeben wurden.

Und natürlich werden DORNENREICH pünktlich zum Release auf Tour gehen: Zwischen dem 30. April und dem 10. Mai sind elf Konzerttermine in Deutschland, Österreich und in der Schweiz geplant. Für mich ist klar, dass ich mir das nicht entgehen lassen darf. Ich bin gespannt, was diesem vielversprechenden Abend im Studio E noch folgen wird.


Mehr Infos, Tourdaten etc. unter www.dornenreich.com sowie unter www.facebook.com/Dornenreich.official

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