Nightwish - Imaginaerum

Review von Elvis vom 22.12.2011 (6101 mal gelesen)
Nightwish - Imaginaerum Es ist einfach nicht fair und doch oftmals so verständlich, wie manche Band extrem auf ihre Stimme reduziert wird und im Bewusstsein vieler Fans oder Hörer nur noch diese Person präsent ist. NIGHTWISH war und ist für viele Personen untrennbar mit der Person Tarja Turunen und ihrer opernhaften Stimme verbunden. Zugegeben, nach dem Rausschmiss der Diva lag die Zukunft der Finnen sicherlich lange Zeit vollkommen im Ungewissen. Würden sie einen Tarja-Klon engagieren? Vielleicht doch eine Versöhnung wagen? Eine ganz andere Richtung einschlagen, oder gar einfach nur Bassist Marco in Zukunft singen lassen? Oder sogar NIGHTWISH komplett sterben lassen? Die Band um Tuomas Holopainen entschied sich nach langen Sitzungen und Auditions für eine denkbar mutige Lösung und Flucht nach vorn, indem sie 2007 als neue Sängerin die Schwedin Anette Olzon präsentierten. Die Dame passte so gar nicht ins bisherige Bild der immer pompöser gewordenen Metalband, hatte sie doch ein - sagen wir es ruhig, wie es ist - eher als Popstimme zu bezeichnendes Organ vorzuweisen. Nichtsdestotrotz entpuppte sich "Dark Passion Play" als ein ungemein vielschichtiges, supererfolgreiches Album, das vor allem eines zeigte: Der wesentliche Faktor bei NIGHTWISH war und ist die Musik, weswegen letztlich der Weggang von Tarja an sich aus meiner Sicht zum einen nicht negativ auffiel, und zum anderen NIGHTWISH sogar gut tat und neue Horizonte eröffnete. Eine ausgedehnte Welttournee folgte, bevor die Band - und vor allem der Chef - sich wieder ans Schreiben machte.

Das Ergebnis ist 2011 nun "Imaginaerum", ein Album, welches den Vorgeschmack zu einem gleichnamigen Film der Band bilden soll. Auch wenn man es der Band sicher nicht übel genommen hätte, Stillstand ist nicht angesagt, so viel sei bereits vorausgeschickt, auch wenn natürlich der von mächtigen orchestralen Arrangements getragene Stil der letzten Alben beibehalten und ausgebaut wird. Mit 'Taikatalvi' fängt das Album schon ungewöhnlich an. Dabei handelt es sich nämlich um ein kurzes, überwiegend akustisches Stück, welches von Marco auf Finnisch gesungen wird. Ein mutiger Einstieg, der aber mehr Intro denn über die Maßen bemerkenswerter Song ist. Vielleicht wäre der Eindruck ein anderer, wenn einem die Sprache näher stünde, aber so bleibt nur, die Stimmung aufzusaugen und sich auf den ersten "normalen" Song, 'Storytime', zu freuen. Der wurde bekanntlich bereits vorab als Single veröffentlicht und konnte bei mir in der bislang vor allem präsenten Radio-Version keinen allzu nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Das änderte sich jedoch mit der Albumversion und insbesondere mit jedem erneuten Durchlauf. Einerseits gewinnt 'Storytime' durch die gut 1,5 Minuten zusätzliche Länge doch enorm, und andererseits vereint der Song spätestens doch nach einigem Hören alle guten Trademarks eines modernen NIGHTWISH-Brechers. Man kann nicht anders, als hier von einem klaren Grower zu sprechen, das Single-Potential offenbart sich jedenfalls nach kurzer Zeit dann doch sehr gut. Breite Orchesterwände, dramatische Chöre und eine Melodie, die so schnell nicht mehr aus dem Kopf geht - im Grunde eben genau das, was man auf einem gewissen Level eben von NIGHTWISH zunächst einmal hören möchte. Anette bewältigt den Song insgesamt sehr gut. Auf hohem Niveau geht es weiter mit 'Ghost River'. Den verhältnismäßig harten, ziemlich aggressiven Song teilen sich Anette und Marco gesanglich, wobei der Bassist die Hauptarbeit übernimmt. Fünfeinhalb Minuten lang gibt es einen höchst gelungenen Achterbahnritt mit diversen Tempi-Wechseln - durchaus ein Anwärter auf eine weitere Single! Bislang also an sich alles beim Alten im Hause NIGHTWISH, oder? Tja, bereits mit dem nächsten Song wird man klar eines Besseren belehrt, denn 'Slow, Love, Slow' ist... ja, ich würde sagen, am ehesten Bar Jazz! NIGHTWISH und jazzige Klänge??? Klingt natürlich im ersten Moment schräg bis unglaubwürdig, funktioniert aber nach dem ersten Schreck und mit ein bisschen Offenheit im Grunde ziemlich bis richtig gut. Anette steht der Gesangsstil wirklich gut, und falls jemand sich nun wirklich so richtig doll erschreckt haben sollte, gibt's dann doch wieder gewohnte Kost zum Abkühlen im Anschluss. 'I Want My Tears Back' ist nämlich ein typischer NIGHTWISH-Reißer der Spitzenklasse mit keltischem Touch in der Melodieführung. Der Song - bestens aufgeteilt im Refrain zwischen Anette und Marco - geht von Anfang an sofort ganz, ganz tief in die Gehörgänge. Mag es auch nicht der alleroriginellste Song sein, den NIGHTWISH so auf Lager haben, er ist megaeingängig, ein klares Highlight des Albums, und ich würde mich nahezu festlegen, dass wir hier die zweite Single-Auskopplung vor uns haben. Damit "Imaginaerum" jedoch nicht eintönig oder gar vorhersehbar wird, gibt's mit 'Scaretale' gleich wieder etwas zwar einerseits vertraut Anmutendes zu hören, aber andererseits doch Elemente, die man so eher noch nicht kannte. Hier kommen nämlich erstmals klar Soundtrackelemente ins Spiel, die auch dem stumpfesten Hörer auffallen dürften. Anette und Marco spielen hier äußerst gekonnt verschiedene Rollen und dürfen sich gesanglich so richtig austoben, was sie auch in alle möglichen Richtungen tun. Wenn in verschiedenen Rezensionen hier ein gewisser Disney-Touch - Tuomas liebt Disney bekanntlich - angesprochen wurde, so kann dem nur klar beigepflichtet werden. Nahezu konsequent ist 'Arabesque' nun auch ein dramatisches Instrumentalstück, welches jedoch im Gesamtbild seine Rolle durchaus zurecht spielt. Bei 'Turn Loose The Mermaids' schlägt Anette wieder sanftere, filigrane Töne an, die jedoch in eine feine Melodie eingebettet sehr gut in ihrer Ruhe ankommen. Lustigerweise kommen später hier ein paar Western-Gefühle auf. 'Rest Calm' wird wiederum deutlich epischer - Marco ist wieder prominent in den Strophen und im Refrain vertreten, was den Song mit einer hohen Dynamik auf ein oberklassiges, abwechslungsreiches Niveau hievt. Der zwischenzeitlich ebenfalls beteiligte Kinderchor, der hier wieder zum Einsatz kommt, sorgt für ein weiteres Highlight auf 'Imaginaerum'. Wiederum ruhigere, aber sehr schöne Töne schlägt das ebenfalls im Duett gesungene 'The Crow, The Owl And The Dove' an. Bevor es nun zum großen Finale kommt, gibt es für alle Fans der Trademarks noch 'Last Ride Of The Day', bei dem nochmals das bekannte Single-Potential von NIGHTWISH ausgeschöpft wird - ein weiterer Kandidat für eine Auskopplung, die im Grunde allen Fans der radiotauglichen Stücke der Band sicherlich gefallen wird. Wer sich mit NIGHTWISH bisher beschäftigt hat, wird wissen, dass doch noch irgendetwas ganz Spezielles fehlt? Ganz richtig, es muss ja schließlich noch ein absolut überlanger Song her! 'Song Of Myself' heißt das zeitliche Ungetüm auf "Imaginaerum" und ist - wen wundert es? - spätestens nach ein paar Durchläufen ein echter Kracher. Man merkt durchgehend, dass hier insbesondere kompositorisches Herzblut drin steckt. Nichtsdestotrotz hat 'Song Of Myself' - trotz klarer Parallelen zu 'Ghost Love Score' oder 'The Poet And The Pendulum' - seinen ganz eigenen Charme, denn nach der gut grandiosen Hälfte des Titels geht es nur noch gesprochen weiter, kein Gesang mehr, nur verschiedene Sprecher, die mehr oder weniger kryptisch anmutende kurze Episoden anreißen. Wem das etwas langweilig vorkommen mag, dem sei nahegelegt, sich durchaus häufiger damit auseinanderzusetzen. Denn schon nach einer gewissen Zeit entfaltet 'Song Of Myself' auch in der zweiten Hälfte einen nicht zu verleugnenden Zauber, dem man irgendwann verfallen kann. Natürlich, es ist wie so oft kein Song, den man als simple Hintergrundbeschallung brauchen kann, aber das würde dem künstlerischen Ansatz von NIGHTWISH auch extrem widersprechen. An das absolut überragende 'The Poet And The Pendulum' kommt der Song für mich persönlich zwar nicht gänzlich heran, schraubt sich jedoch als ebenso wachsender Song in sehr luftige Höhen. Der als Abschluß folgende Titelsong 'Imaginaerum' ist ein Instrumentalstück und dient als Abspannmusik des kommenden Films. Hier werden nochmals alle musikalischen Themen des Albums aufgegriffen und als instrumentales "Best Of" wiedergeboren. Bedarf es zum Abschluss noch des Hinweises, dass die Produktion erwartungsgemäß wieder einmal sehr gut ist und man an allen Ecken und Enden hört, dass es hier ein echtes Orchester war, auf das NIGHTWISH glücklicherweise wieder einmal zurückgreifen konnten? Eigentlich nicht, aber es sei hiermit nochmals gesagt.

In der Gesamtbewertung ist "Imaginaerum" ein zwiespältiges Werk. Wenn man sich auf das Album einlässt und ihm die Zeit zugesteht, sich richtig zu entfalten, wird man mit einem sehr durchdachten, ausgefeilten und abwechslungsreichen Werk belohnt, dessen wahre Größe sich einem vermutlich erst nach wirklich langen, intensiven Hördurchgängen erschließen kann. Einerseits bieten NIGHTWISH immer mal wieder deutlich das an, wofür man sie allgemein schätzt und liebt (siehe z.B. 'Storytime', 'I Want My Tears Back' oder 'Last Ride Of The Day'), andererseits hat man sich konsequent weiterentwickelt und die bombastischen, filmartigen Arrangements vorangetrieben. Dass man dafür den Preis zahlen muss, zunächst vielleicht auf Unverständnis zu stoßen oder ohne das entsprechende Medium als Begleitwerk unverständlich zu bleiben, ist Tuomas dabei offensichtlich egal - und so ist es aus künstlerischer Sicht auch einzig richtig! Es wäre nur zu bequem gewesen, sich rein in Selbstzitaten zu ergehen und - dumm gesprochen - dem Affen Zucker zu geben. Der Erfolg mit einem Album auf Nummer sicher wäre vorprogrammiert gewesen, so geht man eben Risiken ein, auch einen nicht geringen Teil der Anhängerschaft zunächst mal vor den Kopf zu stoßen oder gar zu verlieren. Vorbei sind die Zeiten zwar eingängiger, aber doch auch etwas plumper hektischer Tastenhetzer wie 'Wishmaster', vorbei die Zeiten, in denen es auf eine Openrstimme ankam - die NIGHTWISH des Jahres 2011 sind auf einem ziemlich erwachsenen Level angelangt, könnte man sagen. Dennoch spürt der geneigte Hörer hier durchgehend, dass es sich um ein Album handelt, das so oder so mit dem zugrundeliegenden Konzept eine bedeutsame Rolle im Kanon der Band einnehmen wird auf Dauer. Reine Gelegenheitsfans, die nur auf die bekannten Singles schielen, könnten daher mit "Imaginaerum" durchaus leicht überfordert sein, bekommen jedoch immerhin drei altbekannte Kracher geboten. Wer sich darüber hinaus ernsthaft für den kompositorischen Faktor bei NIGHTWISH interessiert, wird mit "Imaginaerum" eine spannende Entdeckungsreise erleben, die immer wieder neue Facetten offenbart und sehr viel Lust auf den gleichnamigen Film 2012 macht. Der Abschied von Tarja Turunen ist hier m.E. nun endgültig und zum Besten aller Beteiligten besiegelt. NIGHTWISH haben sich weiterentwickelt, und wer dennoch die trällernde Diva haben möchte, darf sich ja weiterhin an ihrem Solowerk gütlich tun - so sind im Grunde alle Parteien glücklich. Insgesamt ist "Imaginaerum" einerseits das, was man erwarten und erhoffen durfte, und andererseits doch so viel mehr geworden, dass es eine wahre Pracht ist - NIGHTWISH sind wieder da, und in dieser Form ein Name mit dem man auch weiterhin ganz, ganz fest rechnen muss.

Gesamtwertung: 9.0 Punkte
blood blood blood blood blood blood blood blood blood dry
Trackliste Album-Info
1. Taikatalvi (2:36)
2. Storytime (5:22)
3. Ghost River (5:28)
4. Slow, Love, Slow (5:51)
5. I Want My Tears Back (5:08)
6. Scaretale (7:32)
7. Arabesque (2:57)
8. Turn Loose The Mermaids (4:20)
9. Rest Calm (7:03)
10. The Crow, The Owl And The Dove (4:10)
11. Last Ride Of The Day (4:33)
12. Song Of Myself (13:38)
13. Imaginaerum (6:18)
Band Website: www.nightwish.com/
Medium: CD
Spieldauer: 1:14:50 Minuten
VÖ: 02.12.2011

Besucher-Interaktion

Name:
Kommentar:
(optional)
Meine Bewertung:
(optional)
(Hinweis: IP-Adresse wird intern mitgespeichert; Spam und Verlinkungen sind nicht gestattet)

Artikel über soziale Netzwerke verbreiten